Als Reto Keller im März 2020 an COVID-19 erkrankte, ahnte er nicht, dass diese Infektion sein Leben für Jahre verändern würde. Es begann mit leichten Symptomen, doch schnell verschlechterte sich sein Zustand drastisch. Innerhalb weniger Tage entwickelte er hohes Fieber und schwere Atemnot.
Um festzustellen, ob es sich um eine COVID-19 Infektion handelte, erkämpfte sich Reto einen Termin im Testzentrum. Das Fieber brachte aber grosse Verwirrung mit sich – er konnte sich später nicht mehr daran erinnern, wie er nach dem Test zurück nach Hause gekommen ist.
Das Ergebnis des Tests nahm Reto nicht mehr wahr. Sein Zustand wurde zunehmend kritischer, so dass seine Frau kurze Zeit später den Rettungsdienst rief, und er ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Dort verschlechterte sich seine Lage weiter: Während seines Aufenthalts entwickelte er mehrere Lungenentzündungen, Nierenversagen und eine Sepsis (Blutvergiftung), die ihn an den Rand des Überlebens brachten.
„Es war ein Wunder, dass ich das überlebt habe.“
Reto lag ca. einen Monat im Koma und seine Familie wurde bereits darauf vorbereitet, dass er sehr wahrscheinlich nicht mehr aufwachen würde. Dennoch wachte er einige Wochen später in einer Rehabilitationsklinik wieder auf, ohne jegliche Erinnerung daran, was in den vergangenen Wochen passiert war. Nichts war mehr, wie zuvor.
Ein Körper, der nicht mehr gehorchte
Reto war von der Brust abwärts gelähmt, seine Arme und sein Kopf waren nur eingeschränkt beweglich. Die ersten Wochen in der Reha waren geprägt von intensivem Lungentraining, Schleimabsaugungen und schmerzhaften Versuchen, wieder mobil zu werden. Bereits das Sitzen im Rollstuhl kostete ihn so viel Kraft, dass sein Puls auf 170 stieg.
„Manchmal hatte ich nicht einmal die Kraft, den Notrufknopf zu drücken, wenn ich Hilfe brauchte.“
Mit unermüdlicher Physiotherapie gelang es ihm allmählich, wieder zu sitzen, dann zu stehen und schliesslich mit Unterstützung kurze Strecken zu laufen. Doch jeder Fortschritt wurde von neuen Rückschlägen überschattet. Ende Mai war er endlich in der Lage zwanzig Meter mit Unterstützung zu laufen.
Ab Mitte Mai 2020 war Reto zum ersten Mal bereit Nahrung wieder selbst zu sich zu nehmen. Bereits nach 3 Löffeln Suppe war er jedoch so erschöpft, dass er nicht weiter essen konnte.
Kurz darauf entwickelte sich ein unerklärlicher Hautausschlag erneut zu einer lebensbedrohlichen Situation. Mit hohem Fieber und aufgeplatzten Stellen am Kopf wurde Reto in die Intensivstation gebracht. Es dauerte vier Tage, bis sein Fieber gesenkt werden konnte und die Ärztinnen waren ratlos, wie es zu dieser Reaktion kam.
Erst eine intensive Begutachtung durch einen dermatologischen Spezialisten des Unispitals konnte eineDiagnose gestellt werden: DRESS-Syndrom. Das DRESS-Syndrom (Drug Rash with Eosinophilia and Systemic Symptoms; deutsch: Arzneimittelexanthem mit Eosinophilie und systemischen Symptomen) ist eine schwere Immunreaktion, die bei Reto durch COVID-19 und die verabreichten Medikamente ausgelöst wurde.
Lichtblicke und Rückfälle
Trotz der Rückschläge machte Reto kleine Fortschritte. das DRESS-Syndrom konnte zwar mit Cortison unter Kontrolle gebracht werden, allerdings kämpfte Reto anschliessend mit anhaltenden Muskelschmerzen, die weder durch eine Muskelbiopsie noch durch neurologische Untersuchungen geklärt werden konnten.
Mit Trainingstherapie, Physio und regelmässigen Untersuchungen kämpfte sich Reto trotzdem weiter voran. Ein erneuter Rückschlag kam im Dezember 2020: Rückenschmerzen raubten ihm den Schlaf.
Ein MRI zeigte, dass Retos Nervensystem ab dem Lendenwirbel abwärts stark aufgeschwollen und entzündet war. Glücklicherweise konnte das Medikament Targin etwas Abhilfe verschaffen und Reto konnte zumindest wieder besser schlafen.
Im Frühjahr 2021 wurde Reto im Unispital Zürich empfohlen, sich gegen COVID-19 impfen zu lassen. Bereits die erste Impfung brachte eine signifikante Besserung und die Schmerzen in den Beinen wurden weniger. Nach der zweiten Impfung konnte Reto sogar das Targin absetzen und verbrachte einen relativ schmerzfreien Sommer, wenn auch geprägt von Konzentrationsschwierigkeiten und Erschöpfung.
Leider war das Hoch nur von kurzer Dauer. Mit dem Herbst kamen auch die Schmerzen zurück. Sein Hausarzt empfahl Reto eine Booster Impfung. Obwohl er zunächst skeptisch war, liess er sich überzeugen und profitierte erneut stark davon. Wenige Tage nach der Impfung im Dezember 2021 gingen die Schmerzen zurück und Reto könnte zum ersten Mal wieder schmerzfrei aufstehen und ohne Atemnot Treppen laufen.
Während der gesamten Zeit seit seiner COVID-Infektion, hat Reto seine zur Verfügung stehende Energie in einem Diagramm dokumentiert.
Doch die Verbesserungen hielten nie dauerhaft an. Regelmässige Rückschläge warfen ihn zurück, und Reto musste lernen, mit den Unwägbarkeiten seiner Erkrankung zu leben. Basierend auf den guten Erfahrungen mit der Impfung setzten sich Reto und seine Ärzte dafür ein, dass er weitere Booster Impfungen erhält. Auch die vierte, fünfte und sechste Impfung brachten ihm jeweils ein paar schmerzfreie Monate.
Leider verschlechterte sich Retos Zustand immer nach einigen Monaten wieder. Nach der sechsten Impfung im Juli 2023 kam die Verschlechterung bereits nach zwei Monaten, was zeigte, dass die Impfungen keine langfristige Lösung für Reto zu sein schienen.
Neben den körperlichen Einschränkungen war auch die psychische Belastung enorm. Schmerzen, Schlaflosigkeit und die Unsicherheit über seine Zukunft lasteten schwer auf ihm.
Neue Wege und Hoffnung
Ein Wendepunkt war im Herbst 2023 die Entscheidung, eine Sauerstofftherapie (Hyperbare Sauerstofftherapie, HBOT; Anmerkung der Redaktion: Mehr zum wissenschaftlichen Hintergrund der Sauerstofftherapie gibt es hier) auszuprobieren. Zum ersten Mal seit seinem COVID-19 Infekt im März 2020 spürte er eine deutliche Verbesserung seiner Leistungsfähigkeit.
In der ersten Therapiephase schloss Reto insgesamt 40 HBOT-Sitzungen über 8 Wochen ab. Aufgrund des enormen Benefits den er aus der Behandlung zog und aktuellen Studienergebnissen aus Israel die einen langfristigen positiven Effekt der HBOT bei Long COVID Betroffenen bestätigt, beschloss Reto im Frühsommer (bis Ende Juni 2024) nochmals 20 Sitzungen anzuhängen.
Seine Situation verbesserte sich dadurch nochmals spürbar und auch jetzt noch bemerkt er kontinuierlich kleine Fortschritte. Diese manifestieren sich darin, dass Retos ganzer Körper wieder viel beweglicher wurde und sich der Gleichgewichtssinn deutlich verbessert hat.
Bis vor zwei Monaten wäre Reto nicht in der Lage gewesen, länger Zeit auf einem Bein zu stehen – nun geht das wieder. Auch das Konditionstraining konnte leicht ausgedehnt werden.
Dank der kontinuierlichen medizinischen Trainingstherapie, Physiotherapie und HBOT hat Reto mittlerweile etwa 70–80 % seiner früheren Leistungsfähigkeit zurückgewonnen.
Trotzdem weiss Reto, dass der Weg zur vollständigen Genesung noch nicht ganz geschafft ist.
„Ich habe gelernt, kleine Fortschritte zu schätzen und geduldig zu sein.“
Entscheidend auf seinem Genesungsweg war für Reto ein starkes Umfeld. Er ist überzeugt, dass er ohne die Unterstützung seiner Familie und Freunde nicht so weit gekommen wäre. Seine Frau und Kinder waren in den dunkelsten Momenten seine grösste Stütze. Auch sein berufliches Umfeld zeigte Verständnis und unterstützte ihn bei den Versuchen, wieder ins Arbeitsleben zurückzukehren.
Reto hofft, dass seine Geschichte anderen Long-COVID-Betroffenen Mut macht. Besonders seine grossen Erfolge mit der HBOT möchte er mit anderen teilen und hofft, dass seine Erfahrungen den Genesungsprozess von Personen mit ähnlichen Beschwerden unterstützen können.