33 Expertinnen und Experten für Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) aus Deutschland, Österreich und der Schweiz waren an der Ausarbeitung beteiligt. Aus der Schweiz waren die ME/CFS Expertinnen und Experten Gregory Fretz, Jürg Hamacher, Martina King, Jonas Sagelsdorff und Maja Strasser involviert.
Das Konsensus Statement gibt einen umfassenden Überblick über den aktuellen Wissensstand zu ME/CFS, hebt die klinischen Kriterien der Kanadischen Konsensuskriterien (CCC) mit Fokus auf das Leitsymptom Post-exertional Malaise (PEM) als Grundlage für die Diagnostik hervor und zeigt verfügbare Therapieoptionen und zukünftige Entwicklungen auf.
Was ist ME/CFS?
Die chronische Multisystemerkrankung ME/CFS kann zu erheblichen körperlichen und kognitiven Einschränkungen führen, die in schweren Fällen zu vollständiger Pflegebedürftigkeit führen. ME/CFS betrifft das zentrale und autonome Nervensystem, das Immunsystem, das kardiovaskuläre System, die Energieproduktion in den Mitochondrien, das Darmmikrobiom und die Perfusion der Muskulatur, des Gehirns und anderer Organe.
Es wird betont, dass es sich um eine somatische (körperliche) Erkrankung handelt. Eine der Hauptursachen ist die übermässige Reaktion auf ein Virus, wie sie auch nach COVID-19 Infektionen zu beobachten ist. Darüber hinaus kann die Erkrankung eine Reaktivierung von im Körper befindlichen Viren verursachen und dadurch weitere Schäden verursachen.
Diagnostische Kriterien und Herausforderungen
Internationale Studien schätzen, dass 84-90% aller ME/CFS Betroffener nicht oder fehldiagnostiziert sind. Die Versorgung in der Schweiz, Österreich und Deutschland weisst grosse Lücken auf. Im Schnitt vergehen ca. 7 Jahre bis zur Diagnosestellung.
Bis die korrekte Diagnose erreicht ist, müssen Betroffene durchschnittlich 11 unterschiedliche Ärzte konsultieren und 2,6 Fehldiagnosen in Kauf nehmen – einige dieser Fehldiagnosen können zu Behandlungen führen, die die ME/CFS-Symptomatik noch verschärfen.
Das Konsensus Statement empfiehlt die kanadischen Konsensuskriterien (CCC) als Goldstandard zur Diagnose. Das Leitsymptom ist Post-exertional Malaise (PEM), das für eine genaue Abgrenzung entscheidend ist. Die PEM beschreibt eine Verschlechterung des Gesundheitszustands nach geringer Belastung, die Tage oder Wochen anhalten kann.
Die Diagnosestellung erfordert eine differenzierte Anamnese und die Ausschlussdiagnostik anderer Erkrankungen. Besonders die Abgrenzung zu psychischen Erkrankungen z.B. Depression oder Burnout sind essenziell, um Fehlbehandlungen zu vermeiden. Patientinnen mit Depression oder Burnout leiden an Motivationslosigkeit, die durch aktivierende Massnahmen behandelt werden kann.
Bei ME/CFS Betroffenen liegt keine Motivationsstörung vor, bei Personen mit PEM führt eine aktivierende Therapie zu Verschlechterung.
Für eine ME/CFS Diagnose nach CCC-Kriterien müssen alle fünf Hauptkriterien:
- Post-exertional Malaise
- Pathologische Fatigue mit Einschränkungen im Alltag
- Schlafstörungen
- Schmerzen
- Neurologische/kognitive Manifestationen
erfüllt sein sowie mindestens zwei Nebenkriterien:
- Manifestationen des autonomen Nervensystems
- Neuroendokrine Manifestationen
- Immunologische Manifestationen
Der Schweregrad einer ME/CFS Erkrankung kann am besten durch die Bell-Skala (0-100) bestimmt werden. Dabei entspricht ein Wert von 100 Punkten einem gesunden Zustand und 0 Punkte dem Zustand einer schwerstbetroffenen Person (bettlägerig, vollständig pflegebedürftig, stark reizempfindlich). Da der Krankheitsverlauf starke Schwankungen aufzeigen kann, wird empfohlen, neben dem aktuellen Bell-Wert auch den besten und schlechtesten Wert im Krankheitsverlauf abzufragen.
Zukünftig könnte der FUNCAP55 Fragebogen zur Einschätzung der funktionellen Kapazität bei ME/CFS hilfreich sein.
Aktuelle und zukünftige Therapiekonzepte
Das Konsensus-Statement betont zwei Hauptsäulen der Therapie: Pacing zur Vermeidung von PEM und symptomlindernde Massnahmen. Pacing hilft den Betroffenen, ihre Energie gezielt einzuteilen und Überlastungen zu vermeiden.
Pacing ist der wichtigste Grundbaustein der ME/CFS Behandlung und hat immer Vorrang vor anderen Massnahmen.
Die Therapie umfasst individuell abgestimmte physiotherapeutische und psychologische Unterstützung, um eine Verschlechterung zu verhindern. Auch die Behandlung von Komorbiditäten und eine angepasste Medikation sind essenziell.
Für schwerstbetroffene Patienten sind intensive häusliche Pflege und spezialisierte Therapien erforderlich. Prävention und Aufklärung, insbesondere im Zusammenhang mit Long COVID, spielen eine Schlüsselrolle in der langfristigen Versorgung.
Die folgende Tabelle fasst die Empfehlungen von aktuellen Therapieoptionen zusammen. Diese Therapieoptionen dürfen nur dann in Erwägung gezogen werden, wenn keine Kontraindikation besteht.
Pacing first: Adäquate Behandlung aller Symptome und der Komorbiditäten unter Beachtung von PEM |
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PEM |
Pacing, Wearables, Aktivitäts-/Symptom-Tagebücher. |
Schlaf/Entspannung
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Entspannungstechniken, retardiertes Melatonin, H1-Antihistaminika der ersten Generation, z. B. Diphenhydramin, niedrig dosierte Antidepressiva (ein Zehntel bis ein Viertel der normalen Dosis: z. B. Mirtazapin, Trimipramin, Doxepin; kein Amitriptylin bei Tachykardie/POTS). |
Orthostatische Intoleranz (OI) (POTS und OH)
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Mind. 3l Flüssigkeit/Tag trinken, v. a. auch Elektrolytsäfte, erhöhte Salzzufuhr, Stützstrumpfhose/Bauchbinde, Medikation: z. B. Ivabradin/Nebivolol [164], Mestinon, Fludrocortison, Midodrin je nach Symptomkomplex. Eventuell Volumensubstitution durch physiologische Kochsalzlösung. |
Schmerzen
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Vorsichtige manuelle Therapie oder Physiotherapie, transkutane Nerven-/Vagus-Stimulation, Medikation: z. B. Paracetamol/Ibuprofen/Metamizol, Gabapentin/Pregabalin, LDN je nach Schmerzsymptomatik, Involvierung der Schmerzmedizin. |
Restless-legs-Symptomatik |
Versuch mit Dopaminagonist Rotigotion als Pflaster (1–3 mg/24 h). |
Mastzellüberaktivität/ MCAS |
H1 und H2-Blocker, eventuell unterstützt durch Mastzellstabilisatoren wie Ketotifen und Cromoglicinsäure. |
Kognitive Dysfunktionen |
Je nach Befunden indirekte Therapie der kognitiven Dysfunktion über Symptomlinderung der Mastzellüberaktivität/MCAS und/oder OI sowie Pacing. LDN, LDA. |
Nahrungsergänzungs-mittel
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Zur Unterstützung des Mitochondrienstoffwechsels und/oder zum Ausgleich von Defiziten. Neuroendokriner Hormonausgleich bei Defiziten. |
„Off-label“-Medikamente für Symptomenkomplexe
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Mestinon (POTS, Fatigue, PEM), [162] LDN (Fatigue, kognitive Dysfunktion, PEM, Schmerzen), [165, 166] LDA (Fatigue, kognitive Dysfunktion, PEM, Reizüberempfindlichkeit), [167] N‑Acetylcystein (NAC) und evtl. Guanfacin (Fatigue, kognitive Dysfunktion, PEM), [168] neuromodulatorische Medikamente, Medikamente bei Durchblutungsstörungen. |
Bei Bedarf Unterstützung durch spezifisch geschulte Diätolog:innen, Ergotherapeut:innen, klinische Psycholog:innen, Psychotherapeut:innen, Physiotherapeut:innen und diplomierte Krankenpflege. Psycholgische Unterstützung. |
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Im Falle von Schwerstbetroffenen braucht es eine „high-intensive home care“, in diesem Fall ist es wichtig, dass den Patient:innen und pflegenden Angehörigen entsprechend geschultes Gesundheitspersonal (z. B. für die Jejunalsondenpflege und Ernährung) und Hilfsmittel (von Antidekubitus-Matratzen bis zu elektrischen Rollstühlen mit Liegefunktion sowie zukünftige Möglichkeiten des Telemonitorings) zur Verfügung gestellt werden. |
Übernommen aus Infobox 1 des Konsensus Statements.
Soziale und medizinische Implikationen
Der Zugang zu angemessener medizinischer Versorgung und sozialer Unterstützung bleibt eine Herausforderung. Dass viele Patientinnen erst nach Jahren die richtige Diagnose erhalten, kann ihre Situation verschärfen. Eine zentrale Forderung des Statements ist es, die Anerkennung (auch bei Gutachtern, IV und Krankenkassen) von ME/CFS zu verbessern und spezialisierte Einrichtungen sowie Schulungsprogramme für medizinisches Personal zu etablieren.