«Mein Leben mit Mr. Long»: Tagebuch einer Betroffenen – Teil 5

«Mein Leben mit Mr. Long»: Tagebuch einer Betroffenen – Teil 5

Leben mit Long COVID – was bedeutet das? Diesmal berichtet Annette Scholer von der Sehnsucht nach Unbeschwertheit und von Alltagshürden wie dem Einkaufen.

Unter dem Titel «Mein Leben mit Mr. Long» veröffentlicht Altea in loser Folge Einträge aus dem Long-COVID-Tagebuch von Annette Scholer. Ihre Erkrankung beschreibt Annette Scholer metaphorisch als «Mr. Long», mit dem sie nun zusammenleben muss. Bereits erschienen:  Teil 1, Teil 2, Teil3, Teil4

«Ich war letzthin an einem Konzert. Die erste Viertelstunde wussten meine Frontlappen nicht, ob sie nun durchdrehen sollten. Wie sie den Lärm, die verschiedenen Eindrücke und das Publikum verarbeiten sollten. Durch die vielen Eindrücke hatte mein Körper das Bedürfnis zu weinen, doch es ging nicht.

Das kommt vor, wenn mein Gedächtnis überlastet oder erschöpft ist. Aus sicherer Distanz konnte ich das Konzert dann doch gut eine Stunde lang geniessen, bis sich in meinem Körper die Erschöpfung bereit machte. Mein Gesicht wurde wieder zum Flipperkasten. Also gingen wir zum Ausgang und suchten uns eine ruhige Stelle. Ich lasse mich einfach nicht unterkriegen und werde es immer und immer wieder versuchen!»

«Gerne wäre ich mal von etwas anderem benebelt als von ‹Brain Fog›.»

«Ab und zu gibt es Situationen, in denen ich lieber einen Joint reinziehen möchte, um alles für einen Moment zu vergessen – besonders, wenn ich Schmerzen habe. Ich würde singend auf meinem Rauchwölkchen sitzen. Mein Gehirn wäre für einmal anders benebelt als von «Brain Fog». Alles wäre bunt und leicht, nichts schmerzte. Das wäre ein Leben!

Oder manchmal möchte mich mir so richtig einen hinter die Binde kippen, um die Leichtigkeit des Seins zu erleben. Ich glaube, Mr. Long wäre mit von der Partie. Aber die Furcht vor dem Kater am nächsten Morgen lässt mich vernünftig bleiben. Schliesslich ist mein Gehirn ja schon genug benebelt, und das kommt bekanntlich nicht vom Trinken.»

Img 5950 WebAnnette Scholer schreibt über ihren Alltag mit «Mr. Long». (Bild: privat)

«Ich habe mich in mein Leben als alleinerziehende Mutter jahrelang allein durchgekämpft, funktioniert und alles im Griff gehabt. Nun lerne ich auf die harte Tour, Hilfe anzunehmen und Kontrolle abzugeben. Wenn ich es nicht mache, kommt Mr. Long und zwingt mit dazu. Schliesslich sind seit meinem Rendez-vous mit Mr. Long schon Alltäglichkeiten wie ein stinknormaler Einkauf zur Herausforderung geworden.

Mr. Long hat Menschenaufläufe nicht so gerne. Das ist für ihn purer Stress. Somit muss ich mir gut überlegen, ob und wann ich in einen Supermarkt gehe, um die Wochenration einzukaufen.

Wenn wir dann einen gemeinsamen Termin und die richtige Zeit gefunden haben, geht es ab wie ein Zäpfli im Schneckentempo. Wir starten den Hindernislauf. Kräfte einteilen, und los geht es. Schon stehen mir die ersten Leute im Weg. Na super: genau dort, wo ich hinsollte. Kopf einziehen, sich entschuldigen, auf das Produkt hechten, einpacken und schnell weiter.»

«Es wird nur eingekauft, was auf dem Zettel steht, wenn das überhaupt möglich ist.»

«Die schwatzenden Leute, die verschiedenen Lärmquelle sind schwierig für mich. Ich muss erkennen, dass der Körper nun langsam schwächer wird und nach einer Pause schreit. Noch nicht einmal die Hälfte des Einkaufszettels ist im Einkaufskorb. Wieder Mr. Long besänftigen und mit ihm dealen. Mit ihm vereinbaren, dass ich so schnell wie möglich aus dem Laden gehe. Da kannst du nicht noch etwas Zusätzliches einkaufen, was dir gerade ins Auge springt. Einkaufszettel abspulen und ab zur Kasse. Dank Mr. Long schon wieder vermieden, zu viel einzukaufen.

Vor den Kassen abchecken, an welcher man weniger lang anstehen muss. Nun ein kurzer, atemloser Schwatz mit der netten Kassiererin und, schon ziemlich in der Ablage hängend, mit Müh und Not den Einkauf einpacken und ab zum Auto. Danach den Einkauf verstauen, hinter das Steuer klemmen und durchatmen. Endlich Ruhe, hinunterfahren und warten, bis ich genug Kraft habe, hinauszufahren. Geschafft!»

» zu Teil 1, Teil 2, Teil3, Teil4