Dezember 2020: Sibylle Imobersteg* und ihre Arbeitskolleginnen werweissen, ob sie ihr Meeting physisch abhalten sollen oder nicht. Nach einigem Hin und Her entscheiden sie sich dafür, stosslüften aber konsequent jede halbe Stunde und halten sich in einem grossen Raum auf.
Im Weihnachtstrubel unbemerkt
Allen Vorsichtsmassnahmen zum Trotz: Kurz darauf wird bei Sibylle Imobersteg und zwei weiteren Teilnehmenden eine Infektion festgestellt. Obwohl sie nur leichte Symptome wie Schwindel und erhöhte Temperatur hatte, merkte sie, dass etwas nicht stimmte. «Mein Körper kämpfte mit etwas, das er nicht kennt», erinnert sie sich. Durch den ganzen Weihnachtsstress hatte Sibylle Imobersteg damals nicht wahrgenommen, dass sie sehr erschöpft war. Erst, als sie wieder zu arbeiten begann, merkte sie, dass sie Konzentrationsschwierigkeiten hatte und «keine parallelen Gedankengänge fassen konnte».
«Mein Körper kämpfte mit etwas, das er nicht kennt.»
Schwerer Abschied von der Praxis
Als systemische Organisationsberaterin und Coach sind ebensolche Gedankengänge zentral. Sie erklärt: «In einem Beratungsgespräch muss man aufmerksam und präsent sein und zugleich mehrere Gedankenstränge im Blick behalten, z.B. die verschiedenen verbalen und nonverbalen Äusserungen des Kunden wahrnehmen, achtsam mit den eigenen Reaktionen umgehen und sich gleichzeitig auch schon eine passende Methode zur Lösungsfindung überlegen.» Sie hat sich deshalb bald entschieden, viele ihrer Kunden an Beraterkollegen und -kolleginnen ihrer Gemeinschaftspraxis abzugeben – mit der Begründung, ihr Kalender sei voll. «Was ja sozusagen auch gestimmt hat», fügt Sibylle Imobersteg an. Zwischenzeitlich hat sie versucht, ihr Pensum wieder etwas zu erhöhen. Dies hatte allerdings mehrere Zusammenbrüche und eine Depression zur Folge. Obwohl Imobersteg es geschafft hat, sich wieder aufzurichten, hat sie ihre Praxisräume vor einer Woche abgegeben. «Das ist ein grosser Abschied. Ich wollte eigentlich kontinuierlich das Pensum reduzieren, bis ich 70 bin», erklärt die 62-Jährige. «Nun bleibe ich bei den 20 Prozent.»
Wenn Imobersteg heute noch Kunden empfängt, streicht sie sich vorher einen Tag und nachher zwei Tage aus dem Kalender. Den Tag davor nutzt sie, um in die Natur zu gehen und sich auf den Auftrag zu fokussieren. Die Tage danach sind da, um sich zu erholen. Manchmal braucht sie diese Zeit, manchmal nicht. Diese Planung ist Teil ihres Energiemanagements.
«Bevor und nachdem ich Kunden empfange, streiche ich Tage aus meinem Kalender.»
Konsequentes Energiemanagement
Das Energiemanagement wurde ihr in der Long-COVID-Sprechstunde des Universitätsspital Zürich verschrieben. In den vier Einzelsitzungen hat sie sich mit Fragen wie diesen auseinandergesetzt: «Wie schaue ich die Woche an? Den Tag? Den Kräftehaushalt? Wie entscheide ich? Wie bringe ich den Mut auf, abzusagen?» Obwohl Imobersteg aufgrund ihrer Tätigkeit bereits viel über Selbstmanagement und Selbstführung wusste, sagt sie: «Ich habe mich durch das Energiemanagement besser kennengelernt. Heute weiss ich, dass ich Puffer einbauen muss, wenn ich etwas machen möchte. So kann ich verhindern, in eine Überforderung zu geraten.» Manchmal sind es Kleinigkeiten, die einem das Leben erleichtern. So lässt sie die schwere Bratpfanne zum Beispiel auf dem Herd stehen, anstatt sie jedes Mal im Schrank zu versorgen.
Solange Sibylle Imobersteg ihre Tage planen kann, kommt sie mittlerweile ganz gut zurecht. «Meine Fitness ist bei etwa 80 Prozent von vor Corona», schätzt sie. Eine neurologische Untersuchung zeigt, dass auch ihre Hirnfunktionen weitgehend normal sind – abgesehen von einer verlangsamten Reaktionsfähigkeit. Dies erstaunt sie nicht: «Wenn etwas nicht so läuft, wie erwartet, und ich aus dem Konzept geworfen werde, bekomme ich Atemnot oder werde wütend und beginne zu schreien.» In solchen Situationen hilft Sibylle Imobersteg kardiovaskuläres Atemtraining, welches sie durch ihre Pilates-Lehrerin entdeckt hat.
«Ich werde leicht aus dem Konzept gebracht, wenn etwas nicht so läuft wie erwartet.»
Diagnose: schwere Fatigue
Was die neurologische Untersuchung auch bestätigt hat, ist eine schwere Fatigue. «Auch wenn es ‹logisch› war, ist es schwierig, diese Diagnose schwarz auf weiss zu sehen», sagt sie ernüchtert. Weil ihre kognitiven Fähigkeiten aber gut sind, und Imobersteg das Energiemanagement konsequent umsetzt, geben die Ärzte ihr eine gute Prognose. Sie wird die Ergebnisse mit ihrer Hausärztin besprechen und muss sich nun erstmal «neu büschele».
Etwas wehmütig fügt sie an: «Es ist traurig zu sehen, dass gewisse Dinge einfach nicht mehr gehen. Ich fühle mich ausgebremst.» Umso wohltuender sind Momente wie dieser: Vor kurzem hat sie sich von ihrer Nichte zum Reiten überreden lassen. «Nach dieser Stunde auf dem Pferd war ich für sechs Stunden klar.» Diesen Sprung zum «Klarsein» spürt Sibylle jeweils ganz deutlich. Und weil dieses Gefühl so befreiend ist, würde sie gerne wieder öfters reiten; aber sie traut es sich nicht zu. Auch in die Ferien zu fahren, scheint momentan unmöglich. «Ich bräuchte jemanden, der mich an die Hand nimmt, der alles organisiert und damit umgehen kann, wenn ich mal passiv bin.»
«Die Naturschutzgruppe gibt mir unglaublich viel Halt.»
Die Natur als Medizin
Diesen Jemand hat Sibylle zumindest teilweise in der örtlichen Naturschutzgruppe gefunden, wo sie sich seit dem Lockdown engagiert. «Dadurch bin ich sozial sehr gut integriert. Die Gruppe gibt mir unglaublich viel Halt.» Wenn es die physische Verfassung zulässt, kann sie sich körperlich betätigen, zum Beispiel beim Hecken pflegen. Und wenn nicht, hilft sie anderswo. «Diese Situation ist ideal», sagt sie.
«Es tut mir einfach gut, draussen zu sein», berichtet Imobersteg. Deshalb macht sie seit einiger Zeit auch Naturbeobachtungen und hat eine Wildtierkamera in ihrem Garten aufgestellt. Ausserdem besucht sie einen Onlinekurs über Vogelstimmen. «Jetzt im Frühling ist das wunderbar», erzählt sie begeistert. «Im Sommer schlafe ich sogar manchmal draussen unter freiem Himmel.»
*Name von der Redaktion geändert. Richtiger Name bekannt.