«Wir vermuten: Das ist vorübergehend, das Gehirn erholt sich.»

«Wir vermuten: Das ist vorübergehend, das Gehirn erholt sich.»

Auswirkungen von COVID-19 auf das Gehirn lassen sich messen. Wie schlimm sind diese? Und wie gross ist das Risiko von dauerhaften Schäden?

In Blog 26 haben wir davon berichtet, dass COVID-19 Spuren im Gehirn hinterlässt – auch bei einem leichten Verlauf der Infektion. Schrumpfende Hirnmasse aufgrund von COVID? Da läuten alle Alarmglocken. Höchste Zeit, bei einer Fachfrau anzuklopfen für eine Einordnung.

Lara Diem, bei Infizierten von COVID-19 wurde ein Rückgang der Grauen Substanz festgestellt. Wie schlimm ist das?

Ich habe mir die Studie genau angeschaut, zusammen mit einem Kollegen mit Erfahrung in der Neuroradiologie. Sie beweist, was wir schon wissen: Dass SARS-CoV-2 ins Gehirn gelangen kann, sei es über die Blutbahnen oder über die Nase, und dort Schaden anrichten kann.

Einen grossen Schaden?

Messungen der Atrophie, also eines Verlusts der Grauen Substanz, sind sehr komplex. Die Genauigkeit solcher Messungen ist von einer Reihe potenzieller Störfaktoren abhängig. Wenn MRI-Geräte unterschiedlicher Hersteller verwendet werden oder die Probanden nicht immer genau gleich im Scanner positioniert sind, beeinflusst das die Resultate. Ausserdem ist das Volumen des Gehirns stark vom Ernährungszustand und Wasserhaushalt abhängig. Man weisst z.B. aus Studien, dass es bei Personen mit Magersucht zu einem Verlust der Grauen Substanz kommen kann, sich diese mit einer Normalisierung des Gewichtes aber erholen kann.

Was bedeutet das?

Dass die Studie sehr gut gemacht, aber trotzdem mit gewissen Unsicherheiten behaftet ist. Das heisst: Wir wissen, dass Corona ins Hirn gelangen und Schaden anrichten kann. Aber wie gross das Ausmass dieses Schadens ist, und ob es ein bleibender Schaden ist, das können wir noch nicht sagen.

«Es gibt bisher keinen Beweis, dass diese Effekte zu Demenz führen.»

Manche fürchten sich vor Spätfolgen wie Alzheimer oder Demenz.

Ein Verlust von Hirnmasse, das klingt natürlich zunächst sehr bedrohlich. Niemand möchte das hören. Aber es ist mir sehr wichtig zu betonen: Es gibt bisher keinen Beweis, dass diese Effekte zu Demenz führen. Erstens ist es gut möglich, dass sich das Gehirn wieder erholt. Da haben wir schlicht noch zu wenig Daten. Das Gehirn ist ein plastisches und flexibles Organ! Und zweitens steckt hinter Demenz und Alzheimer ein anderer Prozess als hinter COVID-19.

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Das müssen Sie näher erklären.

Demenz und Alzheimer sind sogenannte neurodegenerative Erkrankungen. Das heisst, die Zellen bauen sich ab, und das ist irreversibel. COVID-19 ist aber ein entzündlicher Prozess. Entzündungsproteine greifen die Nerven an. Aber wenn die Entzündung weg ist, sollte sich das Gewebe wieder erholen können. Banal gesagt, wie bei einem Mückenstich: Das Immunsystem reagiert, die Stichstelle schwillt an, aber irgendwann ist es erledigt und wieder weg.

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Das heisst, wer jetzt einen leichten Corona-Verlauf hatte, muss sich nicht unbedingt vor Langzeitfolgen fürchten?

Genau. Erstens ist nicht gesagt, dass die Betroffenen Long COVID entwickeln. Immerhin ca. 80 % der COVID-19-Erkrankten erholen sich ohne Probleme. Und selbst wenn das der Fall ist, heisst das nicht, dass man sich nicht wieder erholen kann. Wichtig ist, sich Betreuung und Unterstützung zu holen.

«Logisch: Wenn Sie müde sind, dann werden Sie auch vergesslicher.»

Aber es gibt ja bei Long COVID schon beunruhigende Symptome. Die Vergesslichkeit, die kognitiven Einschränkungen.

Kognitive Störungen sind nicht das gleiche wie Demenz. Kognitive Störungen sind Beschwerden, Demenz ist eine Erkrankung. Die Störungen hängen bei Long COVID vermutlich stark von der Fatigue ab. Sie kennen das: Wenn Sie müde sind, werden Sie auch vergesslich. Wenn Sie an Fatigue leiden, potenziert sich dieser Effekt. Der kann aber wieder verschwinden. Das möchte ich auch meinen Patienten vermitteln: Wir haben zwar nicht viele Daten. Aber wir sehen und vermuten, dass es ein vorübergehender Zustand ist und sich das Gehirn wieder erholt.

«Fatigue und Erschöpfung sind kein Gehirngespinst.»

Was macht Sie zuversichtlich?

Wie gesagt: Es gibt noch nicht viele Daten. Aber es gibt beispielsweise eine Studie, die mit PET-CT gearbeitet hat, einem anderen Scan-Verfahren als MRI. Diese Studie zeigte bei der ersten Messung einen verminderten Glukosestoffwechsel im Gehirn, passend zu der verminderten geistigen Leistungsfähigkeit. Diese Veränderung normalisierte sich bei einer Kontrolle 6 Monate später grösstenteils.

Da sieht man sehr klar: Fatigue und Erschöpfung, das ist kein Gehirngespinst. Das Nervensystem wird direkt attackiert. Aber es kann sich erholen!

Und wir kennen das auch von anderen Viruserkrankungen, wie z.B. Pfeiffersches Drüsenfieber, die monatelange Fatigue verursachen können. Der Körper kann sein Gleichgewicht danach wieder finden. Es bedeutet nicht zwingend, dass man dauerhaft geschädigt ist. 

Zur Person: Lara Diem
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