Interview mit Dr. Carlo Cervia-Hasler: Komplementsystem bei Long COVID

Interview mit Dr. Carlo Cervia-Hasler: Komplementsystem bei Long COVID

Die Zürcher Studie, die eine Aktivierung des Komplementsystems bei Long COVID beschreibt, hat im Januar für einige Schlagzeilen gesorgt. Wir haben mit dem Erstautor gesprochen, um zu verstehen, was die Ergebnisse für Betroffene bedeuten.

In einem früheren Beitrag haben wir die Erkenntnisse aus der Zürcher Studie, aus Prof. Onur Boyman’s Forschungsgruppe für klinische Immunologie, zur Komplementsystemaktivierung bei Long COVID bereits kurz zusammengefasst. In diesem Interview mit dem Erstautor, Carlo Cervia-Hasler, haben wir die Ergebnisse und deren Auswirkungen nochmals genauer ergründet.

 

Carlo Cervia Hasler

Dr. Carlo Cervia-Hasler

 

Zunächst eine kurze Zusammenfassung der Studie

Es wurden 113 Personen, die sich mit SARS-CoV-2 angesteckt hatten und 39 nicht-infizierte, gesunde Kontrollen über ein Jahr lang beobachtet. Nach 6 Monaten zeigten 40 Personen Long COVID Symptome.

Die Blutproben der Studienteilnehmenden wurden via Proteomics auf >6500 verschiedene Proteine getestet. Mit Proteomics kann ein Proteom (Gesamtheit aller Proteine in einer Zelle, einem Gewebe oder einem Organismus) umfassend erforscht werden. Dabei ist es möglich die Proteine zu identifizieren, quantifizieren und zu charakterisieren, wodurch Erkenntnisse über die Struktur, Funktionen und Interaktionen der Proteine gewonnen werden können. Durch die Quantifizierung können Expressionslevels von Proteinen bestimmt werden und Muster erkannt werden. Dadurch kann eine Aktivierung oder Hemmung bestimmter Mechanismen gezeigt werden.

Ziel der Studie war es, Mechanismen und Proteinexpressionsmuster zu finden, die bei Personen mit Long COVID anders sind als bei gesunden Menschen und Menschen die COVID-19 hatten, aber komplett genesen sind.

In der Studie zeigte sich bei Long COVID Patientinnen eine erhöhte Aktivität des Komplementsystems, welches Teil des angeborenen Immunsystems ist. Gesunde und genesene Personen zeigten keine solche Aktivierung. Bestimmte Bestandteile des Komplementsystems waren bei Long COVID Patienten anders (erhöhte Levels an löslichem C5bC6 Komplex; niedrigere Levels an C7 im terminalen Komplementkomplex (TCC)). Diese Veränderungen können in einer Schädigung des Gewebes resultieren.

Gewebsschädigungen wiederum, führen zu erhöhten Levels von Verletzungsmarkern im Blut. Das konnte durch erhöhte Werte des von Willebrand Faktors und niedrige Levels von Antithrombin III bestätigt werden. Ausserdem wurde eine erhöhte Aggregation von Blutplättchen bei Long COVID Betroffenen beobachtet und Hinweise auf eine Antikörper-vermittelte Aktivierung des klassischen Komplementsystems.

 

Zusammenfassend deuten die Ergebnisse darauf hin, dass das Komplementsystem bei Long COVID Betroffenen besonders aktiv ist, es zu Gewebsschädigungen kommt und eine Dysregulation der Antikörperreaktion und der Blutgerinnung vorliegt.

Dieses Wissen kann für die Entwicklung eines Biomarker-Tests für die Diagnose von Long COVID sehr hilfreich sein. Dabei ist es wichtig, mehrere der beobachteten Merkmale in eine Messung mit einzubeziehen.

 

Eine Forschergruppe der Charité stellt die Ergebnisse in Frage

Am 18. März 2024 wurde von einer Forschergruppe der Charité in Berlin ein Preprint auf medRxiv publiziert, der die Ergebnisse der Studie aus Zürich scharf in Frage stellt. Diese Ergebnisse wurden noch keinem Peer Review unterzogen, das heisst der Artikel wurde noch nicht von unabhängigen Forschern überprüft.

Die Forscher der Charité bemängeln, dass die 6-Monate Long COVID Patientinnen in der Zürcher Studie deutlich älter waren (mittleres Alter 58) als die Personen in der Kontrollgruppe (mittleres Alter 35) und einen höheren Body Mass Index (BMI) hatten. Bei der Analyse einer Untergruppe der Studienteilnehmenden, deren Alter und BMI ähnlich waren, konnte keine signifikante Aktivierung des Komplementsystems festgestellt werden.

Die Autoren der Zürcher Studie begrüssen die Untersuchungen des Komplementsystems durch die Charité-Gruppe und betonen die Wichtigkeit von wissenschaftlichem Dialog und Replikationsstudien.

Sie weisen jedoch darauf hin, dass die Berliner Gruppe nur eine der Proteomics-Methoden (nämlich die sog. Massenspektrometrie) verwendete, während die Kernergebnisse der Züricher Studie auf einer anderen Proteomics-Methode (die SomaScan-Technologie) fussen.

Die verschiedenen Proteomics-Methoden haben unterschiedliche Stärken, wobei die Massenspektrometrie die gesamte Menge einzelner Komplementkomponenten messen kann, kann die SomaScan-Technologie die Menge an Komplementkomplexen und gesamtem C7 messen.

Dieser methodische Unterschied wurde in der Zürcher Studie so beschrieben und nun auch durch die Charité wieder bestätigt. Die Autoren der Zürcher Studie unterstreichen auch, dass Unterschiede in Alter und BMI zwischen den Long COVID Patientinnen und der Kontrollgruppe in ihrer Analyse berücksichtigt wurden. Diese Faktoren allein könnten nicht die beobachteten Veränderungen im Komplementsystem erklären.

Unterdessen sind auch weitere Studien erschienen, die eine Komplementaktivierung bei Long COVID beschreiben. Die Ergebnisse der Charité unterstreichen, wie wichtig es ist für einen funktionierenden, genau herauszukristallisieren, was gemessen werden kann und welche Messmethode am besten geeignet ist. Insgesamt weisen diese Publikationen darauf hin, dass ein vertieftes Studium des Komplementsystems bei Long COVID lohnend ist.

 

Study Design.png

Anzahl und Verteilung der Studienteilnehmenden

 

Fragen zum Studiendesign:

Wie wurden die Teilnehmenden, im Besonderen die Kontrollgruppe, ausgewählt?

Die Rekrutierung der Teilnehmenden begann bereits im Frühjahr 2020. Personen mit einer PCR-bestätigten SARS-CoV-2 Infektion sowie Personen die nie eine SARS-CoV-2 Infektion durchgemacht hatten, durchliefen eine klinische Kontrolle inklusive Blutabnahme zu Beginn der Studie, sowie 6 und 12 Monate danach.

Unter den Personen die eine akute SARS-CoV-2 Infektion durchgemacht hatten, waren sowohl milde als auch schwere Verläufe bis hin zu Personen, die aufgrund der Infektion ins Spital mussten.

Dadurch, dass die Teilnehmenden bereits 2020 ausgewählt wurden, war es möglich sicherzustellen, dass es sich bei den Personen mit bestätigter Infektion um die erste Infektion handelte. Ausserdem konnte sichergestellt werden, dass die gesunden Personen noch nie mit SARS-CoV-2 in Berührung gekommen waren, was zusätzlich über einen Antikörpertest geprüft wurde.

Diese Daten sind deshalb besonders wertvoll. Eine vergleichbare Auswahl wäre inzwischen nicht mehr möglich. Es gibt kaum noch Personen, bei denen auszuschliessen ist, dass sie je mit SARS-CoV-2 infiziert wurden und da nicht mehr getestet wird, wissen viele Menschen nicht, wie oft sie bereits COVID-19 hatten.

Die Studienteilnehmenden wurden ab der akuten Infektion bzw. im Falle der Kontrollgruppe ab dem negativen Testergebnis beobachtet. Personen in der Kontrollgruppe, die sich im Laufe der Beobachtungszeit angesteckt haben, wurden ausgeschlossen. Dadurch kann eindeutig bestimmt werden, welche Personen in Folge der SARS-CoV-2 Infektion Long COVID Symptome entwickelt haben und welche nicht.

 

War der Schweregrad der Long COVID Symptome bei den Betroffenen in der Studie unterschiedlich, so dass man davon ausgehen kann, dass die Ergebnisse für alle gültig sind?

Die eingeschlossenen Patientinnen decken das ganze Spektrum von milden bis hohem Schweregrad ab. Aufgrund der Studiengrösse (40 Patientinnen mit Long COVID), ist es aber möglich, dass bestimmte Schweregrade nicht abgedeckt sind. Um sicherzugehen, dass alle Long COVID Betroffenen, egal wie schwer betroffen sie sind, die gleichen Ergebnisse zeigen, müssen weitere Personen getestet werden.

 

Würden Long COVID Betroffene mit asymptomatischem Verlauf während der akuten Infektion das gleiche Proteinexpressionsmuster zeigen?

Unter den Studienteilnehmenden waren zwar auch Personen mit asymptomatischem Verlauf, aber keine dieser Personen hat Long COVID entwickelt. Entsprechend können wir keine Aussage darüber treffen. Das wäre aber auf jeden Fall interessant anzuschauen in einer zukünftigen Studie. Ausserdem wäre es auch spannend zu sehen, ob unterschiedliche Verläufe der Long COVID Erkrankung, also verschiedene Symptome, zu Unterschieden im Proteinexpressionsmuster führen. In unserer Studie haben sich bisher keine Unterschiede gezeigt.

 

Ist die betrachtete Kohorte gross genug, um aussagekräftige Schlüsse zu ziehen oder ist eine Wiederholung mit einer grösseren Anzahl an Teilnehmenden (Validierungsstudie) nötig?

Eine Validierungsstudie ist sicher notwendig und wir arbeiten auch daran, zusammen mit Kollaborationspartnern, unsere Ergebnisse in grösseren Gruppen bestätigen zu können.

 

Wie gross müsste eine Studie angelegt sein bzw. welche Anzahl an Teilnehmenden ist machbar?

Da gibt es keine «goldene Zahl», wichtig ist, dass eine zusätzliche Studie in einer unabhängigen Gruppe von Betroffenen/Kontrollen durchgeführt wird. Bei der Wunschanzahl gilt je mehr, desto besser, man muss aber abwägen was durchführbar ist, einige hundert Samples wären sicher ein guter Start.

Wichtig ist, zu beachten, wie gut die ausgewählte Kohorte charakterisiert ist, also welche Daten über die Studienteilnehmenden bekannt sind und welchen Zeitpunkt man sich anschaut, also wie lange nach der Infektion getestet wird.

Langfristig wäre es auch relevant, zu späteren Zeitpunkten zu messen. Dadurch könnte man herausfinden, ob sich das Proteinexpressionsmuster mit der Zeit verändert, ggf. auch bei bleibenden Symptomen. Das könnte wichtige Hinweise auf den Zeitraum geben, in dem eine Diagnose über die gefundenen Biomarker überhaupt möglich ist.

Für einen möglichen diagnostischen Test muss überprüft werden, ob die Ergebnisse sich im Laufe der Zeit verändern. Bisher wurde in der publizierten Studie der Zeitraum nach 6 Monaten betrachtet, allerdings wurden auch Proben nach 12 Monaten genommen, die vergleichbare Ergebnisse zeigten. Wir haben auch Personen untersucht, die einen Monat nach der akuten Infektion noch Long COVID-artige Symptome hatten, aber nicht mehr nach 6 Monaten. Diese zeigten das charakteristische Proteinexpressionsmuster, das bei den Personen mit Long COVID beobachtet wurde, nicht.

Bei der ersten Studie sind wir bei der Analyse der Proteine in den Blutproben sehr in die Tiefe gegangen. Da wir jetzt wissen, nach was wir suchen, können wir in einer Validierungsstudie mehr Proben in kürzerer Zeit testen.

 

Biomarker Combination for Prediction

Eine Kombination aus diesen 4 Biomarkern konnte in der Zürcher Studie verlässlich bestimmen, ob ein Patient Long COVID hat.

 

Zur Aussagekraft der Studienergebnisse:

Wie gross ist der Unterschied der beobachteten Parameter in der 6-Monate Long COVID Gruppe im Vergleich zu den Kontrollen?

Die Unterscheidung ist sehr deutlich. Besonders, da wir nicht nur einen einzigen Parameter anschauen, sondern eine Kombination aus mehreren Parametern. Das erlaubt eine eindeutige Unterscheidung zwischen Long COVID Betroffenen und Gesunden/Genesenen auf Proteinbasis. In der Studie haben wir das Modell für die Vorhersage auf den Ergebnissen von einem Teil der Studienteilnehmenden aufgebaut und dann an den anderen Teilnehmenden getestet. Die Übereinstimmung war sehr hoch. Das Modell konnte eindeutig bestimmen, wer Long COVID hat und wer nicht.

 

Ist der Unterschied ausreichend deutlich, um falsch negative Resultate bei Verwendung dieser Parameter für einen Biomarker-Test ausschliessen zu können?

Wie viele falsch negative es bei einem tatsächlichen Biomarkertest der auf unseren Parametern basiert gibt, kann man erst sagen, wenn der Test in der «echten Welt» geprüft und validiert wurde.

 

Eine Vielzahl an Erkrankungen haben Auswirkungen auf die Komplementkaskade. Sind die gefundenen Biomarker spezifisch für Long COVID und könnte man gegebenenfalls zwischen Long COVID und anderen Erkrankungen mit ähnlichen Symptomen unterscheiden?

Derzeit können wir noch keine Aussage dazu treffen, ob sich ähnliche Proteinexpressionsmuster auch bei anderen Krankheiten ergeben könnten. Es ist möglich, dass zum Beispiel andere postvirale Erkrankungen oder ME/CFS zu ähnlichen Mustern führen. Das könnte in Folgestudien genauer untersucht werden.

Innerhalb unserer Studie gab es keine Ausschlusskriterien bezüglich zugrundeliegender Erkrankungen, das heisst es waren auch Personen unter den Studienteilnehmenden, die neben Long COVID noch an anderen Grunderankungen litten.

Im Moment ist die Spezifität jedoch für Long COVID Betroffene weniger relevant. Bisher gibt es keine Möglichkeit die Krankheit basierend auf Biomarkern im Blut zu diagnostizieren. Jetzt ist es erst mal wichtig, eine Methode zu finden die eine sichere Diagnose erlaubt. Ob diese Methode dann zu hundert Prozent spezifisch für Long COVID ist, kann später geprüft werden.

 

So könnte es weiter gehen:

Was ist der nächste Schritt in Richtung eines diagnostischen Tests?

Wir sehen unsere Studie als Puzzlestück, das zum einen dabei helfen kann, einen zugrundeliegenden Mechanismus der Erkrankung zu erforschen. Zum anderen ein erstes Indiz für die Entwicklung eines diagnostischen Tests und später einer möglichen therapeutischen Intervention sein kann.

Für beides sind wir auf die Unterstützung von Kollaborationspartner in der Forschung und der Industrie angewiesen. Wir sind dran, entsprechende Kollaborationspartner zu finden.

In der Zwischenzeit versuchen wir den Mechanismus besser zu verstehen, zusätzliche Messungen zu weiteren Zeitpunkten nach der Infektion zu ergänzen und neue Kohorten aufzubauen, um die Ergebnisse in einer grösseren Anzahl an Long COVID Betroffenen zu belegen. Ausserdem arbeiten wir auch stetig an der technischen Weiterentwicklung unserer Methode, um die Messungen einfacher zu machen.

 

Wie lange würde es dauern einen solchen Biomarkertest zu implementieren?

Wenn wir schnell Kollaborationspartner finden können, die uns bei der Entwicklung unterstützen und die Entwicklung des diagnostischen Tests optimal verläuft, dauert es immer noch mindesten 2 Jahre, bis ein fertiger Test bereitsteht. Wie schnell dieser dann im klinischen Alltag landet, ist auch von den Spitälern und Praxen abhängig.

 

Wie kann man herausfinden, ob ein kausaler Zusammenhang zwischen den gefundenen Biomarkern und den Symptomen besteht (das bedeutet, ob die Biomarker ursächlich für die Symptome sind)?

Um herauszufinden, ob ein kausaler Zusammenhang besteht, müssen eine Vielzahl von Modellexperimenten durchgeführt werden. Dabei wird ein bestimmter Mechanismus zunächst in vitro untersucht. Das bedeutet, dass man das Verhalten der Zielproteine (in diesem Fall das Komplementsystem) unter verschiedenen Bedingungen in künstlich hergestellten Zellen beobachtet.

Wenn die in vitro Versuche die Vermutungen bestätigen, können weiterführende Versuche in lebendigen Modellorganismen, zum Beispiel Mäusen, durchgeführt werden. Einen kausalen Zusammenhang zu beweisen ist jedoch sehr kompliziert und kann mehrere Jahre an Forschung dauern.

 

In Silico to in Vivo

In der Forschung unterscheidet man zwischen in silico, in vitro, ex vivo und in vivo Experimenten. In silico Experimente sind theoretische Berechnungen und Überlegungen, die die Wahrscheinlichkeit für bestimmte Mechanismen beurteilen können. Bei in vitro Experimenten wird eine Hypothese in synthetisch gezüchteten Zellkulturen getestet. In ex vivo Experimenten, werden die zu erforschenden Vorgänge in Gewebe, das von einem Modellorganismus entnommen wurde, beobachtet und bei in vivo Experimenten wird schliesslich der gefragte Vorgang in einem lebendigen Modellorganismus beobachtet.

 

Es gibt bereits Medikamente, die auf das Komplementsystem abzielen. Wie sinnvoll wäre es ihrer Ansicht nach ein solches Medikament für eine systemische Behandlung, die alle Symptome von Long COVID adressiert in klinischen Studien zu testen?

Medikamente die Einfluss auf das Komplementsystem nehmen, können gefährliche Nebenwirkungen haben. Durch das Herunterregulieren des Komplementsystems wird ein Teil des Immunsystem ausgeschaltet und dadurch zum Beispiel die Anfälligkeit für gewisse Infektionen deutlich erhöht. Es muss also genau abgewägt werden, ob der mögliche Benefit die Risiken überwiegt.

Abgesehen davon, wäre es sehr interessant ein bekanntes Medikament mit Wirkung auf das Komplementsystem in einer gut kontrollierten klinischen Studie zu testen.

 

 

Wir danken Carlo Hasler-Cervia für das spannende Interview und gratulieren ihm und seinen Kollegen zu der Studienarbeit. Wir sind gespannt, wie es weiter geht!