Therapien gegen Long COVID: Warum geht das nicht schneller?

Therapien gegen Long COVID: Warum geht das nicht schneller?

Betroffene von Long COVID warten sehnlichst auf ursächliche Therapien. Warum braucht deren Entwicklung so viel Zeit? Auskunft von einer Ärztin, die auch forscht.

Lara Diem ist Oberärztin am Berner Inselspital. Die interdisziplinäre Long-COVID-Sprechstunde, an der Diem als Neuroimmunologin beteiligt ist, hat schon über 400 Betroffene von Long COVID aufgenommen. Lara Diem weiss also aus erster Hand, wo der Schuh drückt: Betroffene möchten möglichst schnell möglichst effektive Therapien. Als Forscherin am Universitätsspital weiss Lara Diem aber auch, dass eine seriöse Studie viel Zeit braucht. 

Im Interview berichtet Diem vom Spagat zwischen den Erwartungen und dem Leidensdruck von Betroffenen einerseits und den hohen Anforderungen der Forschung andererseits. 

Lara Diem, was bieten Sie Betroffenen von Long COVID in der Sprechstunde? 

Wir sind eine Spezialsprechstunde, die Hoffnungen der Betroffenen entsprechend hoch. Leider können wir diese nicht komplett erfüllen. Patienten wünschen sich ein Medikament, das sie heilt. Doch das habe ich derzeit nicht zur Hand. Oft kann ich nicht viel mehr tun als beraten. Die Betroffenen müssen enorm viel selbst machen: akzeptieren, verzichten, zuversichtlich bleiben. Das kostet sie viel Wille, Geduld und Energie. Wir sehen aber auch, dass es sich lohnt. 

20210621 Diem Lara WebOberärztin Lara Diem ist auch Mitglied im medizinischen Experten-Board von Altea. (Bild: zVg) 

Warum können Sie «nicht viel mehr tun als beraten»? 

Es gibt noch keine erprobte ursächliche Therapie. Manche Medikamente, die für andere Zwecke entwickelt wurden, können auch bei Long COVID die Genesung unterstützen oder die Symptome lindern: etwa bei Muskelschmerzen, Missempfindungen, Schlafstörungen und so weiter. Das wird individuell abgestimmt. Sehr zurückhaltend bin ich aber bei nicht erprobten experimentellen Ansätzen. Ich verstehe, dass verzweifelte Patientinnen nach jeder Hoffnung greifen. Mir würde es wahrscheinlich genau gleich gehen – aber als Ärztin kann ich das nicht verantworten. 

Wenn aber jemand schon 15 Monate lang stark leidet und sagt: Ich habe nichts mehr zu verlieren. Warum nicht etwas ausprobieren? 

Das wäre unethisch. Ich kann ein Medikament erst verschreiben, wenn ich weiss, dass es erprobt, sicher und wirksam ist. Sonst spannen wir Patienten quasi als Versuchskaninchen ein, und das will niemand. Und zu verlieren hat man übrigens immer etwas: Es können schwere Nebenwirkungen auftreten, Komplikationen, lebensbedrohliche Schäden. Wenn man den Effekt von Medikamenten oder Therapien nicht kennt, bleibt ein erhebliches Risiko. 

Ist man denn überall so vorsichtig? Im Ausland sei man mutiger und experimentierfreudiger, höre ich ab und zu. 

Das bezieht sich wohl unter anderem auf das Medikament BC 007 aus Deutschland. Auf der Seite clinicaltrials.gov, wo die Studien registriert werden, ist aber bis heute noch keine Studie zu BC 007 und Long COVID gelistet. Auch dieses Forschungsteam braucht also offensichtlich Vorbereitungszeit für seine Studien. Um die Impfstudie aus Yale ist es ebenfalls sehr ruhig geworden in den letzten Monaten. Gute Forschung braucht Zeit – überall. 

«Ich verspreche nicht zu viel, weil ich keine falschen Hoffnungen wecken möchte.» 

Dennoch: Ist die Forschung in der Schweiz nicht zu passiv? Gibt es hier klinische Studien? 

Die Firma GeNeuro forscht zum Beispiel mit Unterstützung des Bundes an einem monoklonalen Antikörper mit dem Namen Temelimab, der gegen Long COVID helfen könnte. Verschiedene andere Studien sind in Vorbereitung.  

Ich sage meinen Patienten immer: «Wenn wir eine Studie haben, dann werden wir Sie informieren.» Schon vorher etwas ankündigen, was dann vielleicht nichts wird, halte ich für unfair gegenüber den Betroffenen. Falsche Hoffnungen zu wecken wäre unverantwortlich. Ich halte es lieber nach dem Motto: underpromise and overdeliver (wenig versprechen, mehr liefern). Aber es laufen Vorbereitungen zu Studien, auch in der Schweiz. 

Warum sind Studien zu Medikamenten eigentlich so aufwendig? 

Zunächst braucht es eine Idee, eine gute Hypothese. Das wiederum bedingt ein Verständnis der zugrunde liegenden Mechanismen, was bei Long COVID nach wie vor erforscht wird. Bei der Impfung war das einfach: Da war das Genom des Virus nach 10 Tagen entschlüsselt und man kannte das Angriffsziel für Interventionen genau. Bei einem neuen Syndrom wie Long COVID muss man indes zuerst herausfinden, was überhaupt sinnvolle Ansatzpunkte sind, sogenannte Targets. Bei Long COVID gibt es dazu schon verschiedene Hypothesen. Man will das Übel ja an der Wurzel packen und nicht nur Symptome bekämpfen, so dass man wenige Wochen nach einer vermeintlich erfolgreichen Behandlung wieder zurück auf Feld eins ist. 

«Im Gegensatz zur Impfung muss man bei Long COVID zuerst herausfinden, was gute Angriffsziele für Medikamente sind.» 

Es braucht also weiterhin Grundlagenforschung. Wie geht es weiter, wenn mögliche Targets bekannt sind? 

Dann braucht man einen Wirkstoff, der dieses Target blockiert oder eliminiert. Hat man einen solchen gefunden, muss man testen, ob dieser Wirkstoff gefährlich oder giftig ist. Um die Toxizität zu testen, kommen am Anfang Tierversuche zum Einsatz. 

Danach gibt es eine Phase-I-Studie. Das Medikament wird an gesunden Personen getestet, um zu schauen, wie gut das Medikament aufgenommen wird, wie lange es im Körper bleibt, ob es an die richtigen Stellen gelangt, wie gut es vertragen wird, ab welcher Dosis Nebenwirkungen auftreten, ob das Medikament als Tablette oder Spritze verabreicht werden soll usw. Hier lauern viele Hürden. Nicht zu vergessen, dass die Studie zuerst von einer Ethik-Kommission bewilligt werden muss. Auch das kostet Zeit und Arbeit. 

Was passiert in der zweiten und dritten Phase? 

In Phase-II-Studien wird das Medikament an einigen Kranken getestet, vielleicht 100, 200 Probandinnen und Probanden. Die eine Hälfte der Gruppe bekommt das Medikament, die andere ein Placebo. So findet man heraus, ob sich tatsächlich ein heilender Effekt des Wirkstoffs zeigt. 

Sind diese Hürden übersprungen, geht es in die Phase III. Da wird der Wirkstoff weltweit an Tausenden von Probanden getestet, um herauszufinden, bei wem er wirksam ist, wie sich Dosierung und Nebenwirkungen verhalten. Diese Studie ist dann die Grundlage für eine Zulassung durch Behörden wie die Swissmedic. Und am Ende stellt sich noch die Frage, ob die Krankenkasse die Kosten für das Medikament übernimmt. 

«Ich bleibe zuversichtlich. Es werden Medikamente gegen Long COVID auf den Markt kommen.» 

Ein gigantischer Hürdenlauf. 

Ja. Forschung ist kein Sprint, sondern ein Marathon. Aber quasi einer ohne Ende und mit mehreren Zielen. 

Wie bleiben Sie da zuversichtlich? 

Ich bin guten Mutes, aus zwei Gründen: Erstens hoffe ich, dass in absehbarer Zeit Medikamente gegen Long COVID auf den Markt kommen. Ich arbeite auch auf dem Gebiet der Multiplen Sklerose. Da gab es zuerst gar nichts, und dann nur einzelne Medikamente mit zum Teil relevanten Nebenwirkungen. Heute haben wir 15 verschiedene Wirkstoffe zur Auswahl, und jedes Jahr kommt ein neuer hinzu. 

Zweitens sehe ich, dass sich der Zustand von Betroffenen auch mit dem aktuellen, symptomorientierten Behandlungsschema verbessert. Nach zwölf Monaten haben 50 Prozent der Patientinnen kaum mehr Beschwerden, die Symptome fallen wirklich ab. Hier hilft eine Kombination von medikamentösen und nicht-medikamentösen Massnahmen: Moderne Antihistaminika sind zum Beispiel oft hilfreich, es braucht aber auch ein passendes Energiemanagement, damit man seine neuen Grenzen respektieren lernt. So erzielt man gute Erfolge. 

Manche leiden aber auch deutlich länger als ein Jahr – das ist enorm lang. Das Ziel bleibt deshalb, dass wir zukünftig früher, gezielter und effektiver intervenieren können. Damit man sich schnell wieder erholt und nicht eine solch schwere Leidensgeschichte hat mit monatelangen Ausfällen im Arbeits- und Alltagsleben. 

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