«Vom wunden Punkt zum Wendepunkt» - Schmerzbewältigung durch Poesie

«Vom wunden Punkt zum Wendepunkt» - Schmerzbewältigung durch Poesie

Um den Schmerz zu bewältigen, begann Nicola Renfer lyrische Texte zu schreiben – und fand darin einen neuen Fokus im Leben.

Nicola Renfer kennt Schmerz. Seit ihrer Kindheit begleiten sie Migräneanfälle. Mit der beinahe täglichen Einnahme von Schmerzmitteln und genügend Pausen konnte sie ihren Alltag lange Zeit relativ gut bewältigen, erklärt sie. Das änderte sich im Winter 2022 – nachdem sie einen milden Infektionsverlauf mit COVID-19 erlebte. Sie beschreibt eine enorme Verschlimmerung der Kopfschmerzen, dazugekommen sei eine übermässige Schmerzempfindlichkeit (Allodynie) sowie ein Tinnitus auf der rechten Kopfseite. Zudem berichtet Renfer von plötzlicher Misophonie: Einer extremen Empfindlichkeit gegenüber bestimmten Geräuschen im Alltag. Ihr Sohn, der in einen Apfel beisst. Die unzähligen Anschläge der Tastaturen im Empfangsbereich einer Arztpraxis. Alle harten, stakkatoartigen Töne und viele weitere Reize quälen Nicola Renfer.

Nach COVID blieb der Schmerz in ungekannter Heftigkeit

Während sich ihre Familie schnell von dem Akutverlauf der Erkrankung erholte, blieben die Beschwerden bei Nicola Renfer. COVID-19 habe ihre bereits bekannten Schmerzen ins Unermessliche potenziert – bis heute unverändert.      

 

»Corona hat meine Schwachstellen getriggert.»

Kurz nach überstandener Infektion ging sie wieder wie gewohnt zur Arbeit als Lehrerin für Italienisch und Geschichte in der Sekundarstufe 2. Bereits nach wenigen Tagen habe sie gemerkt, dass dies nicht mehr gehe. Bis sie auch akzeptieren konnte, dass der gewohnte Alltag nicht mehr zu bewältigen war, habe es einen Moment gedauert. Während starke Schmerzmittel ihr früher einen augenscheinlich normalen Alltag und die Berufsausübung ermöglichten, konnten nach COVID-19 selbst diese nichts mehr gegen den allgegenwärtigen Schmerz ausrichten.

Die Rückkehr an den Arbeitsplatz rückte in weite Ferne

Immer wieder hoffte die 42-jährige, bald wieder an den Arbeitsplatz zurückkehren zu können – erfolglos, die ständigen Migräneanfälle und die verstärkte Reizempfindlichkeit liessen das Unterrichten nicht zu. Nach einem erschöpfenden Ärztemarathon, der Renfer von Spezialist zu Spezialist führte, wurde der Gedanke real, dass der Schmerz als Langzeitfolge bleiben könnte.

«Lyrik kommt einfach anders beim Gegenüber an. Sie geht tiefer als normale Worte.»

Dies bedeutete einen Abschied vom gewohnten Sozialleben, vom Sport, vom Beruf. Und die Suche nach einer neuen Aufgabe – einer, die mit dem Schmerz koexistieren kann. Was Nicola Renfer fand, war eine Aufgabe, die nicht nur koexistiert, sondern vom Schmerz getragen wird. «Aus dem Leid zur Leidenschaft» - so beschreibt Renfer die Bedeutung der Lyrik.

«Im stärksten Schmerz kommen die Worte wie von selbst»

Sprachen habe sie schon immer geliebt. Erst auf Anraten ihres Vertrauensarztes, der sie im Kampf gegen den Schmerz begleitet, begann sie selbst Gedichte zu schreiben, so Renfer. Die Poesie helfe ihr auf unterschiedlichsten Ebenen: Wenn der Schmerz am stärksten ist, kommen die Worte wie von selbst und helfen ihr, den Anfall zu bewältigen, erklärt sie. Zudem böten ihr die Gedichte eine wunderbare Möglichkeit sich mitzuteilen: «Lyrik kommt einfach anders beim Gegenüber an. Sie geht tiefer als normale Worte.»

Schreiben (mit Quelle)

Nicola Renfer verfasst lyrische Texte.  (Bild: Mimmo Muscio, Birsforum Medien GmbH)

Diese Art sich verständlich zu machen, spielt für Nicola Renfer eine ganz besondere Rolle. Es sei herausfordernd dem persönlichen Umfeld zu erklären, was dieser allgegenwärtige, unsichtbare Schmerz mit ihr macht. Familie und Freunde erleben die Veränderung ihrer Mutter, Ehefrau, Tochter, Freundin und Kollegin – und müssen damit umgehen. Dies sei für alle Beteiligten nicht einfach gewesen, doch mittlerweile sei die Familie sogar stärker zusammengewachsen.

Trotz Schuldgefühlen am Leben teilnehmen

Nicola Renfer hat in der Poesie die Kraft gefunden, mit dem Begleiter Schmerz umzugehen und auch den Mut gefasst, dieser Aufgabe trotz Krankschreibung nachzukommen. Sie rät anderen Betroffenen: «Man darf sich zeigen! Ich kann nicht arbeiten und an einem normalen Alltag teilnehmen, aber ich kann schreiben – und das ist nichts Verbotenes.» Trotz Krankheit dürfe man den Mut haben, Stück für Stück wieder am Leben teilzunehmen – anders liesse es sich nicht bewältigen. Auch unser Gespräch setzt Nicola Renfer sichtbar zu – immer wieder muss sie für einige Sekunden die Augen schliessen, um mit den vielen Reizen umzugehen. «Man entwickelt so seine Methoden», erklärt sie sich.

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Bild 2 (update N R17.03.23)

Gedicht: Worte wie Treibgut (Bild 2)

Heute kann Nicola Renfer dank der Lyrik mit dem Schmerz umgehen. Zusätzlich bekommt sie eine regelmässige Antikörper-Therapie im Rahmen der Migräne-Behandlung. Es besteht Hoffnung, dass diese immerhin die grössten Schmerz-Peaks etwas abzuflachen vermag.

UPDATE April 2023: Nicola Renfer wurde, nachdem sich die Symptomatik teilweise zugespitzt hatte, mit ME und PEM diagnostiziert. Dies helfe ihr, die Leiden bereits vor der COVID-Infektion zu erklären und zu verstehen, berichtet sie. 

Anderen Betroffenen Mut machen

Da sie nicht in ihren Beruf als Lehrerin zurückkehren kann, hofft Renfer das Schreiben zu ihrer zentralen Aufgabe machen zu können. Zum einen möchte sie als Gesundheitsbotschafterin anderen Long COVID-Betroffenen Mut machen, zum anderen sich der Lyrik selbst widmen.

Lesungen, ein Social Media Account und langfristig einmal ein eigener Gedichtband sind Projekte, die Renfer je nach gesundheitlicher Verfassung zukünftig angehen möchte.

«Vom wunden Punkt zum Wendepunkt» - beschreibe gut wie der Schmerz, der sie so lange quälte, sie plötzlich in ihrer neuen Aufgabe beflügelt.

Wer sich für einen Austausch mit Frau Renfer zum Thema «Long COVID-Bewältigung durch Poesie» interessiert, kann sie gerne per Email oder via Instagram (die_architextin) kontaktieren.

 

Bild 3  Teil Von Spinnend Bleibts Spannend

Teil von Gedicht “Spinnend bleibt’s spannend” (Bild 3)