Zu Long COVID wird derzeit sehr viel publiziert. Da ist es nicht einfach, den Überblick zu behalten und die Spreu vom Weizen zu trennen. Gregory Fretz (vgl. Infobox «Zur Person») ordnet für Altea die Trends und Thesen ein. Im ersten Teil des Interviews ging es um die Ursachen von Long COVID. Im zweiten Teil geht es nun um therapeutische Ansätze.
Gregory Fretz, in den letzten Wochen wurde unter Wissenschaftlern diskutiert, ob Long COVID auf eine Reaktivierung des Epstein-Barr-Virus zurückzuführen sein könnte. Wie sehen Sie das?
Das Epstein-Barr-Virus (EBV) ist der Auslöser des Pfeifferschen Drüsenfiebers. Ein grosser Teil der Bevölkerung hat eine solche Infektion durchgemacht. Wir wissen, dass EBV eines der Viren ist, die ein chronisches Erschöpfungssyndrom (CFS) auslösen können. CFS hat viele Gemeinsamkeiten mit Long COVID. Die Diskussion über ein reaktiviertes EBV ist also nicht neu: CFS-Betroffene haben durchschnittlich mehr EBV-Antikörper als nicht Betroffene.
Was wir hingegen nicht wissen: Was ist Huhn, und was ist Ei? Löst also ein reaktiviertes EBV die Symptome aus? Oder sind die höheren EBV-Antikörper eine Nebenerscheinung davon, dass das Immunsystem aus dem Gleichgewicht ist? Das ist eine interessante Forschungsfrage. Für Betroffene bringt es derzeit aber eher wenig, wenn sie ihren EBV-Titer untersuchen lassen. Es gibt derzeit kein Medikament gegen EBV, das man auf einem soliden wissenschaftlichen Fundament einsetzen könnte.
«Für Betroffene bringt eine EBV-Messung derzeit wenig.»
Gewisse Präparate sind aber im Gespräch.
Das stimmt schon. Aber eines hat man untersucht und herausgefunden, dass es nichts bringt. Bei einem anderen haben wir noch zu wenig Daten, im Zusammenhang mit Long COVID sowieso. Das Medikament hat Nebenwirkungen, kostet 1000 Franken im Monat und wird von der Krankenkasse nicht erstattet.
Ich verstehe den Frust von Betroffenen, die den grossen Wunsch haben, etwas zu machen. Ich finde es verständlich, wenn sie von sich aus etwas ausprobieren möchten. Aber als Arzt kann ich nicht auf gut Glück etwas verschreiben, das noch nicht seriös erforscht ist. Bei der Medikamentenentwicklung zerschlagen sich anfänglich gute Aussichten leider oft wieder. Dieses Spannungsfeld zu kommunizieren, ist immer wieder eine Herausforderung.
«Als Arzt kann ich nicht etwas verschreiben, was noch nicht seriös erforscht ist.»
Im Sommer wurde über die Help-Apherese berichtet, ein Blutwäscheverfahren.
Den Ansatz fand ich interessant, ich stand auch mit der Forscherin in Kontakt. Die Idee ist, Autoantikörper und entzündungsfördernde Zytokine aus dem Blut zu filtern. Leute mit einem Druckgefühl auf der Lunge und Atemnot sprachen in einer kleinen Studiengruppe gut darauf an. Eine Patientin von mir, die vor allem neurologische Symptome hatte, konnte von der Therapie weniger profitieren. Es ist also wohl nicht für alle Betroffenen die Lösung, vielleicht für eine bestimmte Untergruppe. Und man weiss noch nicht, wie lange der Effekt anhält.
In der Schweiz wird das Verfahren meines Wissens bisher nicht angeboten, in Deutschland hingegen zunehmend, das wird auch wissenschaftlich begleitet. Es ist allerdings auch eine intensive und invasive Behandlung. Die Blutwäsche wird ja in einem Gerät ausserhalb des Körpers durchgeführt, das ist nicht ganz trivial.
Für viel Aufsehen sorgen derzeit Forschungsergebnisse aus Erlangen: Dort konnten mehrere Long-COVID-Patienten mit einem noch nicht zugelassenen Medikament geheilt werden.
Für mich klingt das tatsächlich sehr plausibel. Das Medikament BC 007 ist ein Antikörper gegen Autoantikörper – es beseitigt also Proteine, die den Körper angreifen. Wenn man diese Autoantikörper finden und binden kann, wie es BC 007 verspricht, kann das ein sehr vielversprechender Ansatz sein.
Ist das der erhoffte Durchbruch?
Ich wäre noch etwas vorsichtig: Das Medikament ist noch nicht zugelassen, jetzt folgen die klinischen Studien. Bisher wurden weniger als 10 Betroffene damit behandelt. Wichtig wird auch sein, dass man verschiedene Formen von Long COVID berücksichtigt und nicht alle in einen Topf wirft. Ich vermute, dass der Ansatz für einen bestimmten Patiententypus sehr vielversprechend ist, aber nicht durchs Band weg allen etwas bringt.
Könnte die Untersuchung der Augendurchblutung für die Diagnose etwas bringen?
Für die Diagnose ist das sicher spannend. Im Auge kann man die Mikrozirkulation untersuchen, die bei Long COVID beeinträchtigt sein kann, auch noch lange Zeit nach der Infektion. So kam man darauf, BC 007, das ursprünglich für Patienten mit speziellen Herzkrankheiten entwickelt wurde, einzusetzen. Es scheint einen Zusammenhang zu geben zwischen Autoantikörpern und der Mikrodurchblutung. Wie genau das zusammenhängt, ist für mich im Moment aber noch unklar. Wenn man diese Korrelation klären kann, wäre das sehr hilfreich.
Womit haben Sie selbst bisher gute Erfahrungen gemacht?
Es gibt verschiedene Schemas für medikamentöse Behandlungen. Das Bild ist relativ gemischt: Manche profitieren von solchen Interventionen, andere nicht. Vorerst gilt: Eine wissenschaftlich fundierte medikamentöse Therapie, die ursächlich wirkt, gibt es derzeit nicht. Das sehe ich gleich wie die Deutschen Fachgesellschaften.
Bei der symptomorientierten Therapie haben wir viel gelernt in den letzten Monaten. Ein Bespiel sind Lavendelöl-Kapseln: Diese funktionieren erstaunlich gut bei Schlafstörungen. Und das MBSR-Programm (mindfulness based stress reduction) wird von Betroffenen als hilfreich erlebt. Auch Amitriptylin bei Kopfschmerzen hilft häufig hervorragend, es gäbe noch zahlreiche Beispiele.
«Lavendelöl-Kapseln funktionieren erstaunlich gut bei Schlafstörungen.»
Wie gehen Sie damit um, dass Sie Ihren Patienten keine Behandlung anbieten können, welche die Ursachen von Long COVID heilt? Der Leidensdruck ist ja enorm.
Das ist ein Spannungsfeld. Ich versuche, transparent zu sein: Ich kann nicht ausschliessen, dass manche Dinge helfen könnten. Aber ich bin zurückhaltend, etwas zu verschreiben, solange die Evidenz fehlt. Was manchen hilft, wirft andere zurück. Unerprobte Therapien empfehlen wir nicht aktiv, begleiten sie aber allenfalls auf Wunsch.
Ich verstehe den Wunsch nach einer eindeutigen Antwort und einer einfachen Lösung. Die Geschichte zeigt aber, dass es bei allen komplexen Erkrankungen – und Long COVID ist eine komplexe Erkrankung – leider keine simple Lösung gibt. Wenn etwa in den USA oder aber durch ein bestimmtes Verfahren plötzlich alle Betroffenen geheilt wären, hätten wir das hier auch gemerkt. Wir kommen der Komplexität jedoch zunehmend auf die Spur, wie die besprochenen Beispiele zeigen.