Aufgrund der Wirkung bei COVID-19 wurden selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs) auch für die Behandlung von Personen diskutiert, die bereits an Long COVID leiden. In einer Studie wurde bisher über eine signifikante Verbesserung durch SSRIs bei Patienten berichtet, die an Long COVID erkrankt sind und in Folge von COVID-19 an Depressionen leiden. Als Reaktion auf diese positiven Ergebnisse wurde in einer kürzlich durchgeführten Studie versucht, SSRIs bei Long COVID Patientinnen weiter zu untersuchen.
Es ist wichtig zu beachten, dass SSRIs neben ihrer antidepressiven Wirkung verschiedene Wirkungsweisen haben, die für die Behandlung von Long COVID interessant sein könnten. Long COVID ist eine somatische Erkrankung und darf nicht wie psychische Erkrankungen behandelt werden.
Was sind selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs) und wie wirken sie?
SSRIs sind eine Klasse von Medikamenten, die hauptsächlich zur Behandlung von Depressionen und Angstzuständen eingesetzt werden. Sie wirken, indem sie den Serotoninspiegel im Gehirn erhöhen.
Serotonin ist ein Neurotransmitter (ein körpereigener chemischer Botenstoff, der Signale zwischen Nervenzellen überträgt), der zu Wohlbefinden und Glücksgefühlen beiträgt. SSRIs blockieren die Wiederaufnahme von Serotonin in die Neuronen, so dass mehr Serotonin im Gehirn zur Verfügung steht, was die Stimmung verbessert und Angstzustände verringert.
Interessanterweise haben SSRIs auch eine entzündungshemmende Wirkung und können unser Immunsystem auf drei Arten beeinflussen:
Erstens können SSRIs die so genannte Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse (HPA) durch die Aktivierung von Serotonin und Noradrenalin (ein weiterer wichtiger Neurotransmitter) modulieren. Die HPA-Achse ist an der Freisetzung von Glukokortikoiden beteiligt, die praktisch alle Immunzellen beeinflussen.
Zweitens können SSRIs mit dem Kynurenin-Stoffwechselweg interagieren, der an der Produktion eines wichtigen Energiemoleküls, dem Nikotinamid-Adenin-Dinukleotid (NAD+), beteiligt ist. Der Kynurenin-Stoffwechselweg ist bei vielen Erkrankungen, einschliesslich Long COVID, überaktiviert und kann die Immunreaktionen beeinflussen.
Drittens haben einige SSRIs neben ihrer Wirkung auf die Serotoninlevels, einen Einfluss auf pro-inflammatorischer Zytokine und können dadurch die Virusreplikation und -reaktivierung verringern können.
Wirkmechanismus von SSRIs (Lattimore et al.)
Eine niederländische Studie untersuchte SSRIs bei 95 Patienten mit Long COVID
In diese Studie wurden Patientinnen aufgenommen, die an einer Behandlung mit einem SSRI interessiert waren. Ihre Hausärztinnen wurden per E-Mail über den experimentellen Charakter der Behandlung, die mögliche Wirkung von SSRIs bei Patienten mit Long COVID, welche SSRIs bevorzugt verwendet werden sollen (Fluvoxamin, Citalopram, Escitalopram und Fluoxetin), die Dosierungen und mögliche Nebenwirkungen informiert. Den Patientinnen wurde geraten, mit einer niedrigen Dosis zu beginnen und diese je nach Ansprechen und Nebenwirkungen schrittweise zu erhöhen.
Die Studie umfasste 95 Patienten aus den Niederlanden mit einer bestätigten SARS-CoV-2-Infektion, die Long COVID Symptome entwickelt hatten und mit SSRIs behandelt wurden. Das Durchschnittsalter der Patientinnen lag bei 43 Jahren, und es gab fast sechsmal mehr Frauen als Männer. Alle Patientinnen füllten vor Beginn der SSRI-Behandlung einen Fragebogen aus, um Informationen zu Long COVID Symptomen, zur Krankengeschichte und zur Medikamenteneinnahme zu sammeln. Etwa einen Monat nach Beginn der SSRI-Behandlung füllten die Patienten einen weiteren Fragebogen aus, um über den verwendeten SSRI, das Ansprechen auf die Therapie, die Verbesserung der Symptome und die Nebenwirkungen zu berichten.
Vor Beginn der SSRI-Behandlung litten die Patientinnen im Durchschnitt 15 Monate lang an Long COVID, wobei die meisten von ihnen schwere Symptome hatten. Alle Patienten berichteten über Brain Fog, Müdigkeit und Belastungsintoleranz (Post-excertional Malaise, PEM). Fast alle Patientinnen litten auch unter Reizüberflutung, Kopfschmerzen und Herzklopfen, Muskelschwäche, Muskelschmerzen und Krämpfen.
SSRIs verbesserten die Symptome von Long COVID bei einigen Patientinnen
Fast zwei Drittel der Patienten berichteten über einen Rückgang der Symptome nach der SSRI-Behandlung; davon wurde die Verbesserung von 26,9 % der Patientinnen als eher gut, von 29,0 % als gut und von 7,5 % als stark beschrieben (Abbildung). Was die spezifischen Symptome betrifft, gaben 31,1 % der Betroffenen einen verbesserten Schlaf und 72,0 % eine Abnahme der PEM an. Vier Patientinnen berichteten über eine Abnahme der gastrointestinalen Symptome, ein Patient über das Verschwinden von Fieber und ein Patient über eine Verbesserung der Kaufähigkeit.
Alle 14 Patientinnen mit dissoziativen Symptomen gaben an, dass diese verschwanden. Bemerkenswert ist, dass bei 24 Patienten, die den SSRI mehr als sechs Monate lang einnahmen, die positiven Ergebnisse erhalten blieben.
Die Studie lieferte ausserdem starke statistische Belege für die positive Wirkung der SSRI-Behandlung auf Long COVID-Symptome. Im Einzelnen nahmen Brain Fog und Reizüberflutung am stärksten ab, und zwar um 3,8 bzw. 3,6 Punkte auf einer Skala von 0 bis 10. Muskelschmerzen nahmen um 2,1 und Muskelschwäche um 1,9 Punkte ab. Einige Patientinnen berichteten auch über einen starken Rückgang der PEM und eine Verbesserung des Tinnitus. Patienten mit Fibromyalgie berichteten über geringe oder gar keine Verbesserungen nach der Einnahme eines SSRI.
Nach der SARS-CoV2-Infektion kam es bei Long COVID Patientinnen zu einer deutlichen Verschlechterung der Funktionsfähigkeit, wobei ihre Werte laut der Bell-Funktionalitätsskala von durchschnittlich 94,2 auf 23,5 sanken.
Nach der SSRI-Behandlung stieg der Durchschnittswert auf 47,2. Diese Verbesserung deutet darauf hin, dass die Patienten wieder in der Lage sind, sich vollständig selbst zu versorgen, einzukaufen und zu Fuss zu gehen, und dass sie teilweise wieder arbeiten können. Von den 36 Patientinnen, die einen SSRI für zwei Monate oder kürzer einnahmen, berichtete fast die Hälfte über eine anhaltende Symptomreduzierung nach dem Messzeitraum.
Neun Patienten sprachen nicht auf die Behandlung mit SSRIs an. Diese Patienten schienen zu Beginn schlimmere Symptome zu haben und beschrieben eine schwerere Erkrankung als die Patientinnen, die auf SSRIs ansprachen. Drei von ihnen wurden wegen einer schweren Lungenentzündung, einer Lungenembolie und einer Thrombose ins Krankenhaus eingeliefert.
Bei den meisten Patientinnen traten anfänglich Nebenwirkungen auf, die jedoch meist innerhalb weniger Wochen abnahmen oder verschwanden. Bei etwa einem Drittel der Patienten traten schwerwiegende Nebenwirkungen auf, bei 55 % waren es leichte und bei 14 % keine. Zu bemerken ist, dass drei Viertel der Patientinnen in den ersten Wochen der Behandlung Nebenwirkungen hatten, bevor sich die positiven Auswirkungen der SSRIs zeigten.
Ergebnisse eines Fragebogens zu den Behandlungsergebnissen von 93 Patientinnen mit Long COVID, die mit SSRIs behandelt wurden. Die meisten Patienten erlebten zumindest mässige Verbesserungen.
Mögliche Wirkmechanismen von SSRI bei Long COVID
Die Studienautoren schlugen mehrere potenzielle Wirkmechanismen vor, durch die SSRIs die Symptome von Long COVID verbessern könnten:
- Dysregulierung des Tryptophan-Systems: Das Tryptophan-System baut die essenzielle Aminosäure Tryptophan ab, die für die Serotoninproduktion wichtig ist. Dieses System wird bei Long COVID überaktiviert, was zu einem erheblichen Tryptophanmangel im Blut führt. Dieser Mangel wird mit kognitiven Beeinträchtigungen und neuronalen Schäden in Verbindung gebracht. SSRIs können dem Tryptophanmangel entgegenwirken, indem sie mehr Serotonin in den Neuronen verfügbar machen, wodurch die entsprechenden Long COVID Symptome gelindert werden können. Zu möglichen Behandlungen, die das Tryptophan-System beeinflussen, gehören Nahrungsergänzungsmittel wie Resveratrol und Nikotin. Es sind jedoch noch weitere Untersuchungen erforderlich, um deren Nutzen zu bestätigen.
- Gestörte HPA-Achse: Die HPA-Achse, die für die Regulierung von Stresshormonen zuständig ist, kann bei Long COVID-Patienten gestört sein. Diese Störung führt zu einem verminderten Cortisolspiegel (, das Stresshormon Cortisol, ist ein Molekül, das fast alle Organe und Gewebe im Körper beeinflusst). SSRIs können auf die HPA-Achse einwirken und ihre Funktion möglicherweise wiederherstellen, wodurch sich die Symptome von Long COVID verbessern können.
- Störungen im Stammhirn: Das Stammhirn ist ein Teil unseres Gehirns, der lebenswichtige Funktionen wie Körpertemperatur, Schlaf, Herzfrequenz, Atmung, Verdauung und sensorische Aktivitäten reguliert. Das Stammhirn ist auf Neurotransmitter wie Serotonin, Noradrenalin und Dopamin angewiesen. Das SARS-CoV-2-Virus kann über spezielle Proteine (Rezeptoren) in Hirnstammzellen eindringen. Obwohl SSRIs in der Regel den Schlaf verschlechtern, berichteten viele Patientinnen in der vorliegenden Studie von einem verbesserten Schlaf. Das wird möglicherweise durch die Wirkung der SSRIs auf das Stammhirn und die erhöhte Produktion von Melatonin (ein Hormon, das eine wichtige Rolle beim Schlaf spielt) verursacht. Andere Veränderungen, wie die Verringerung von Herzklopfen, Kurzatmigkeit und Magenbeschwerden, deuten ebenfalls darauf hin, dass SSRIs dazu beitragen können, gestörte Neurotransmittersysteme im Stammhirn wiederherzustellen.
- Gestörtes Gleichgewicht des autonomen Nervensystems: Störungen des autonomen Nervensystems (Dysautonomie), insbesondere das posturale orthostatische Tachykardie Syndrom, kurz POTS (verstärktes Herzklopfen beim Aufstehen), sind ein häufiges Symptom von Long COVID. Dieser Zustand ist dadurch gekennzeichnet, dass die Patientinnen Herzklopfen/Herzrasen, Schwindelgefühle und extreme verspüren, so als ob sie sich in der sogenannten «Fight-or-Flight» (Kampf oder Flucht) -Reaktion befinden würden. Bei dieser Reaktion werden normalerweise zusätzliches Cortisol und Glukose freigesetzt, um die Muskeln auf den Einsatz vorzubereiten. Bei Long COVID Patienten ist der Cortisolspiegel jedoch nur etwa halb so hoch wie normal, was zu Muskelschwäche führt, weil die Glukose in den Muskeln nicht freigesetzt werden kann. SSRIs werden häufig eingesetzt, um POTS und Herzklopfen zu lindern.
- ZNS-Symptome: Patienten mit kognitiven Symptomen wie Brain Fog und Reizüberflutung sprechen gut auf die Behandlung mit SSRIs an. SSRIs können die Zusammenarbeit zwischen den sensorischen Hirnregionen verbessern und die sensorische Überlastung verringern. Viele Long COVID Patientinnen leiden auch unter Vergesslichkeit. SSRIs können die Serotoninproduktion im Hippocampus, dem Gedächtniskontrollzentrum des Gehirns, anregen.
- Sigma1-Rezeptor-Agonisten: Einige Arten von SSRIs, auch Sigma1-Rezeptor-Agonisten genannt, haben bei COVID-19 entzündungshemmende Wirkungen gezeigt, indem sie die Expression pro-inflammatorischer Zytokine (Interleukine) im Gehirn verringern. Der Sigma1-Rezeptor ist wichtig, um die Virusreplikation zu verringern und die Reaktivierung von Herpesviren wie dem Epstein-Barr-Virus (EBV) zu verhindern.
- Der positive Einfluss von SSRIs auf das Kreislaufsystem: Viele Patientinnen mit Long COVID entwickeln Mikrogerinnsel, d. h. kleine Gerinnsel im Blut, die den Fluss von Sauerstoff und Nährstoffen verhindern. Blutplättchen sind Fragmente in unserem Blut, die Gerinnsel bilden und bei Serotoninmangel weniger funktionsfähig werden. Durch die Hemmung der Serotonin-Wiederaufnahme verlängern SSRIs die Gerinnungszeit und können dazu beitragen, Mikrogerinnsel aufzulösen. SSRIs haben auch eine entzündungshemmende Wirkung auf die Endothelzellen, die alle Blutgefässe auskleiden, was möglicherweise kardioprotektive Effekte hat.
Die Anzahl dieser verschiedenen mechanistischen Überlegungen zeigt sowohl das Potenzial von SSRIs bei Long COVID als auch, wie wenig über ihre Wirkungen tatsächlich bekannt ist. SSRIs sind starke Medikamente, die erhebliche Nebenwirkungen haben können. Ihre Anwendung sollte von einem Arzt für jede Person auf Grundlage ihrer Krankengeschichte und ihrer aktuellen Symptome gründlich geprüft werden.
Teilen Sie Ihre Erfahrungen gerne mit unserer Community im Altea Forum, wenn Sie bereits SSRIs zur Behandlung von Long COVID eingesetzt haben.