Am Ende des fast einstündigen Gesprächs sagt Selina Rutz-Büchel einen bemerkenswerten Satz: «Ich war unbewusst überzeugt, dass es mich nicht treffen kann.» Sie habe gewusst, dass es Long COVID gibt, sogar ihre Schwester habe vor einigen Monaten mit ähnlichen Folgen zu kämpfen gehabt. «Aber ich bin eine junge Sportlerin – obwohl ich von Long COVID wusste, war ich überzeugt, dass ich eine Infektion easy wegstecken würde.»
Das ist auch nicht weiter verwunderlich, schliesslich überstehen viele eine Infektion problemlos – und in der Schweiz gibt es wohl kaum jemanden, der fitter und gesünder ist als die zweifache Leichtathletik-Europameisterin (vgl. Kasten «Zur Person»). Kaum jemand schaut besser zum eigenen Körper als Selina Rutz-Büchel. Wer, wenn nicht sie sollte eine Infektion gut verkraften können?
«Das ist ein interessanter psychologischer Effekt», sagt sie. «Mir fällt auf, dass auch viele andere Junge sich in dieser Art unverwundbar fühlen.» Doch es kann eben alle treffen, unabhängig von der eigenen Fitness. Darin liegt ein Trost – niemand ist «Schuld» daran, unter Long COVID zu leiden – und eine Warnung: Niemand ist vor tückischen Langzeitfolgen gefeit.
Erkrankt war Selina Rutz-Büchel Anfang April. Sie hatte einen leichten Verlauf, erholte sich schnell und war optimistisch, den Trainingsrückstand bald wieder aufholen zu können. Auch eine Herz- und Lungenkontrolle fiel positiv aus.
«Es darf auch mal angurken»
Doch nach 10 Tagen kam der erste Rückschlag: Sie hatte Halsweh, war müde, musste das Training abbrechen. Also versuchte Rutz-Büchel, den Aufbau nun gemächlicher anzugehen. Doch zwei Wochen später wieder: «Bumm, es ging gar nichts mehr. Ich war total erschöpft, ausgelaugt, völlig unverhältnismässig.» Diese Phase sei sehr schwierig gewesen – denn langsam dämmerte es ihr, dass sie den Olympia-Traum würde loslassen müssen.
Die Enttäuschung hat sie inzwischen verarbeitet. Wie sie das gemacht hat? «Ehrlich sein, die Gefühle zulassen: Es darf einen auch mal angurken!», sagt die Top-Athletin.
Schliesslich begann Selina Rutz-Büchel, auch das Positive zu sehen und Dankbarkeit zu entwickeln. «In den 5 Jahren Vorbereitung habe ich so viel gelernt, durfte wachsen als Mensch und habe viele Herausforderungen gemeistert. Diese Erfahrungen behalten ihren Wert für mein Leben, auch wenn der angestrebte Höhepunkt fehlt.»
Zum ersten Mal seit Jahren konnte Rutz-Büchel das Ferienhaus der Familie im Tessin auch im Sommer besuchen, hatte viel Zeit für sich. So konnte sie sich mit Fragen beschäftigen, die sonst zu kurz kommen: Was ist mir wichtig im Leben? In welche Richtung soll es gehen? Aus diesem neuen Fokus schöpft sie Motivation.
«Ich musste vieles umlernen.»
Auch ihren Körper hat die 800-Meter-Läuferin noch einmal neu kennengelernt. «Ich musste vieles umlernen», erzählt sie. Früher war bei einer Rekonvaleszenz immer das Herz-Kreislauf-System der limitierende Faktor. Doch nun scheine das Nervensystem aus dem Takt zu sein. Dinge, die den Kopf beanspruchen, «schleissen» sie extrem. «Das ist für mich eine völlig neue Situation.» Es passt zum Krankheitsbild von Long COVID, das viele bewährte Gewissheiten auf den Kopf stellt.
Grosser Einfluss des Zyklus
Sie lernte, Zeichen neu zu deuten. So fühlen sich die Tage während der Periode oft wie ein Rückfall an: Es geht schlechter, neue Symptome, Fieber und Gliederschmerzen treten auf. «Es hilft mir dann, wenn ich das einordnen kann. Es kommt weniger aus dem Nichts. Ich muss nicht denken: Es nimmt kein Ende», erklärt Rutz-Büchel. So könne sie in Zukunft besser reagieren.
Nach einer schwierigen Phase des Akzeptierens hat Selina Rutz-Büchel ihre Motivation wieder gefunden. Die nächsten Olympischen Spiele finden bereits in drei Jahren statt – 2024 Paris. Schon einen Monat vor der Infektion hatte Rutz-Büchel entschieden, bis dahin noch weiterzumachen. Und daran hält sie nach langem Abwägen weiterhin fest: «Ich will noch nach Paris!» Wie lange es dauern wird, das alte Niveau wieder zu erreichen, ist jedoch völlig unklar. «Der Körper gibt das Tempo vor. Da kann ich keinen Plan schmieden.»
Bild Header: Weltklasse Zürich 2019 / Felix Walker