Muss die Krankenkasse meine Therapie bezahlen? Diese Gründe sprechen dafür

Für Long COVID gibt es noch keine etablierten Therapien. Krankenkassen sind unter Umständen trotzdem zahlungspflichtig: Es gilt die «Pflichtleistungsvermutung».

Anwältinnen und Anwälte des Verbands Covid Langzeitfolgen nehmen im Altea-Blog Stellung zu rechtlichen Fragen, mit denen Betroffene von Long COVID konfrontiert sind. In diesem Beitrag befasst sich Sebastian Lorentz mit der Übernahme von Therapiekosten durch die Krankenkasse. Vielen Betroffenen stellt sich die folgende Frage so oder ähnlich:

Meine Krankenkasse will die Kosten für meine Therapie nicht übernehmen. Dabei heisst es doch, die «Kosten von notwendigen medizinischen Behandlungen bei Langzeitfolgen von Covid-19» würden von der Krankenversicherung übernommen. Warum klappt das bei mir nicht, und was kann ich tun?

Die kurze Antwort: Damit Leistungen von der Krankenkasse übernommen werden, müssen sie erwiesenermassen wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sein. Weil Long COVID ein so junges Syndrom ist, war es noch gar nicht möglich, solche Therapien zu entwickeln und den wissenschaftlichen Beweis für die Wirksamkeit zu erbringen.

Damit eine Therapie trotzdem möglich ist, greift in solchen Fällen die sogenannte «Pflichtleistungsvermutung» (oder das «Vertrauensprinzip»): Es wird auch ohne Beweis grundsätzlich davon ausgegangen, dass Behandlungen wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sind, wenn sie ärztlich verordnet wurden. Ärztinnen und Ärzte geniessen also einen Vertrauensvorschuss. Die Beweislast liegt ausserdem nicht bei der Ärztin, sondern bei der Krankenkasse. Diese muss beweisen, dass eines der Kriterien nicht erfüllt ist, wenn sie die Zahlung verweigert. Auf der Basis der Pflichtleistungsvermutung lassen sich also gegebenenfalls Behandlungskosten einfordern.

Die ausführlichere Antwort folgt im zweiten Teil des Blogs. Zum Schluss wird beschrieben, welche Schritte man unternehmen kann, um Kosten einzufordern.

Auch ohne bewiesene Wirksamkeit kann die Krankenkasse gegebenenfalls Behandlungskosten übernehmen.

In der Schweiz übernimmt die Krankenkasse die Kosten der Krankenpflege. Darunter sind alle medizinischen Massnahmen zu verstehen, mit denen eine Gesundheitsschädigung diagnostiziert und/oder behandelt wird, sofern sie von einem zugelassenen Leistungserbringer (bspw. Ärztinnen und Ärzten) vollzogen werden.

Keine Zusatzleistungen nach Gutdünken

Nach Artikel 34 des Krankenversicherungsgesetzes (KVG) darf die Krankenkasse nur die Kosten für bestimmte Leistungen übernehmen (Art. 34 Abs. 1 KVG). Darüber hinausgehende freiwillige Leistungen dürfen die Kassen gar nicht erbringen, da dies das Legalitätsprinzip verletzen würde.

Das Listenprinzip

Zahlungspflichtige Leistungen sind in Listen (sog. Listenprinzip) festgehalten. Es gibt aber keine abschliessende Positivliste ärztlicher und chiropraktischer Pflichtleistungen. Vielmehr ist aufgelistet, welche ärztlichen und chiropraktischen Leistungen unter welchen Bedingungen oder aber gar nicht übernommen werden (Negativliste).

Ausserdem werden grundsätzlich nur Kosten für Leistungen übernommen, die in der Schweiz erbracht werden (sog. Territorialitätsprinzip; Art. 34 Abs. 2 KVG). Erst wenn eine Leistung nicht in der Schweiz erbracht werden kann, so kann – ausnahmsweise – eine Leistung im Ausland kostenpflichtig sein.

WZW: wirksam, zweckmässig, wirtschaftlich

Basis für die Aufnahme in die Listen sind übergeordnete Kriterien: Alle zu übernehmenden Leistungen müssen wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sein (sog. WZW-Kriterien; Art. 32 KVG). Diese Kriterien sind kumulativ zu erfüllen: Wenn eines dieser Kriterien nicht erfüllt ist, muss die Krankenkasse nicht zahlen. In die Listen dürfen nur Leistungen aufgenommen werden, welche diese Voraussetzungen erfüllen. Zusätzlich muss die obligatorische Krankenpflegeversicherung im konkreten Fall immer überprüfen, ob die WZW-Kriterien erfüllt sind.

Leistungspflicht bei Long COVID

Die Langzeitfolgen von Covid-19 sind wissenschaftlich derzeit noch nicht hinreichend erfasst. Es bestehen relevante Unklarheiten bezüglich Diagnostik und Therapien. Da Listen erst bei gesichertem Wissen erstellbar sind, können diese heute noch gar nicht erstellt worden sein. Hat das für Betroffene von Long COVID zur Folge, dass sie überhaupt keine Behandlungskosten geltend machen können? Das wäre offensichtlich absurd. Deswegen gibt es neben den Listen eine zweite Möglichkeit.

Hier greift die gesetzliche Pflichtleistungsvermutung: Ärzte sowie Chiropraktiker haben im Rahmen von Art. 25 Abs. 2 KVG einen grossen Entscheidungsspielraum. Es wird von der (widerlegbaren) Vermutung ausgegangen, dass angewandte und verordnete Behandlungsmethoden wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sind.

Gegenbeweis nötig

Ist also eine Leistung ärztlich verordnet, so reicht es seitens der Krankenkasse nicht, eines der WZW-Kriterien in Zweifel zu ziehen. Die obligatorische Krankenpflegeversicherung muss beweisen, dass eines der WZW-Kriterien nicht erfüllt ist. Gelingt ihr dieser Beweis nicht, so liegt Beweislosigkeit vor. In diesem Falle gilt die Behandlung aufgrund der Pflichtleistungsvermutung als wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich. Somit können auch Leistungen, die nicht in den Leistungskatalogen aufgeführt sind, von den Kassen übernommen werden.

Ausnahme: Die Negativliste

Eine gewichtige Ausnahme gibt es: Wenn die Methode auf der Liste in Anhang 1 der Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV) von der Leistungspflicht ausgenommen ist, werden keine Kosten übernommen.

Sonst: Chance auf Kostenübernahme

Bei umstrittenen Leistungen, die nicht auf der Negativliste zu finden sind – zum Beispiel, soweit ersichtlich, die Help-Apherese – hat die obligatorische Krankenpflegeversicherung den Beweis zu erbringen, dass diese Leistung die WZW-Kriterien nicht erfüllt. Gelingt ihr dies nicht, so müssen die Leistungen übernommen werden.

Was tun, wenn die Krankenkasse Leistungen ablehnt?

Wenn die Krankenkasse die Übernahme einer Leistung ablehnt, so ist zuerst zu prüfen, ob allenfalls Zusatzversicherungen bestehen, die die fragliche Leistung decken. So lässt sich womöglich zumindest ein Teil der Kosten auf anderem Weg einfordern.

Für den Rechtsweg braucht es eine Verfügung

Auch ist umgehend zu prüfen, in welcher Form der Ablehnungsentscheid vorliegt. Viele Krankenkassen lehnen in einem ersten Schritt mittels formlosem Schreiben ab, d. h. es liegt keine Verfügung vor. Trifft dies zu, so ist die Dringlichkeit geringer. Hat man jedoch eine Verfügung bekommen, so muss man – sofern dagegen vorgegangen werden soll – innert 30 Tagen Einsprache erheben.

Gespräch mit Ärzten suchen

In jedem Fall sollte mit dem behandelnden Arzt besprochen werden, wie er die Begründung der Ablehnung einschätzt. Teilt er oder sie die Meinung der Krankenkasse? Wenn nicht, ist oft schon ein Gespräch zwischen behandelnder Ärztin und dem Vertrauensarzt der Krankenkasse zielführend.

Letztes Mittel: Rechtsweg

Wenn ein solches Gespräch nicht zum Ziel führt und erst eine formlose Ablehnung der Krankenkasse vorliegt, sollte die Krankenkasse nochmals mit guter Begründung gebeten werden, ihre Entscheidung zu überdenken. Dabei sollte man darum bitten, eine allfällige Ablehnung in Form einer Verfügung zugestellt zu bekommen. Gleichzeitig sollten die vollständigen Akten einverlangt werden. Liegt die Verfügung dann vor, eröffnet sich der Rechtsmittelweg.

Einsprache erheben

Der Rechtsmittelweg beginnt mit der Einsprache. Diese muss innert 30 Tagen nach Zustellung der Verfügungbegründet erhoben werden. Es ist darzulegen, weshalb die Verfügung nicht richtig ist. Bei der Beschreitung des Rechtsmittelweges sollte geprüft werden, ob anwaltliche Unterstützung angezeigt ist. Da Anwälte Geld kosten, lohnt es sich abzuklären, ob eine Rechtschutzversicherung (mit Deckung für diesen Fall) besteht, was das finanzielle Risiko überschaubarer macht.

Rechtsanwalt Sebastian Lorentz (lic. iur.) ist Mitglied im Verband Covid Langzeitfolgen und Partner bei Lorentz Schmidt Partner Rechtsanwälte (rehaanwaelte.ch).

Die drei Kriterien im Detail erklärt
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Wie ist es bei der Komplementärmedizin?
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Quellen
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