Spitex bei Long COVID: Wichtige Unterstützung zu Hause

Spitex bei Long COVID: Wichtige Unterstützung zu Hause

Für Betroffene von Long COVID kann die Spitex eine grosse Entlastung sein. Doch das Angebot ist kaum bekannt. Dabei wird es von der Grundversicherung übernommen.

In Zusammenarbeit mit der interdisziplinären Sprechstunde   am Zürcher Stadtspital Waid hat Pflegefachfrau Linda Frei mit ihrem Team ein Spitex-Angebot für Betroffene von Long COVID aufgebaut. Im Interview spricht sie über ihre Erfahrungen mit einem Krankheitsbild, für das auch Pflegende noch nicht auf etablierte Leitlinien zurückgreifen können.

Linda Frei, wie gelangen Betroffene von Long COVID zu Ihnen in die Spitex?

In der Regel kommt die erste Verordnung von der Long-COVID-Sprechstunde am Stadtspital Zürich. Bei Bedarf wird diese später vom Haus- oder Facharzt erneuert. Hausärztinnen, Fachärztinnen oder Betroffene können sich aber auch direkt an uns wenden. Oft gelangen die Betroffenen erst zu uns, wenn die Verzweiflung schon sehr gross ist.

Woran liegt das?

Zum einen wissen viele schlicht nicht, dass es für Betroffene von Long COVID die Möglichkeit einer ambulanten Pflege zu Hause gibt. Und das, obwohl es eine Grundversicherungsleistung ist, die die Krankenkasse übernimmt. Zum anderen sind auch Scham und Stigma ein Thema. Sich einzugestehen, dass man Unterstützung braucht, ist viel einfacher, wenn man ein gebrochenes Bein hat, das alle sehen können.

Linda Frei Quadrat

Linda Frei ist Geschäftsleiterin der Spitex Herzenssache in Zürich. (Bild: zVg)

Wie unterstützen Sie Betroffene konkret?

Das ist individuell unterschiedlich. Bei den meisten ist aber die psychosoziale Pflege wichtig. Ich erkläre das gleich, möchte aber erst noch etwas zum Wort «psychosozial» sagen.

Bitte.

Mir ist ganz wichtig zu sagen, dass Long Covid keine psychische Erkrankung ist. Long COVID ist eine somatische, körperliche Erkrankung. Für Betroffene ist es ein enormer Stressfaktor, wenn das nicht anerkannt wird. Die Symptome sind vielzählig und die teils massiven Funktionseinschränkungen, beispielsweise die Fatigue, haben auch psychosoziale Auswirkungen. Wenn man fast nichts mehr tun kann, schon ein Spaziergang oder ein Telefongespräch mit einer Freundin zu viel ist, dann macht das etwas mit einem. Und genau hier kann unsere Unterstützung sehr wertvoll sein.

«Belastend ist der psychische Stress: Die Angst, dass die eigenen Kräfte nicht ausreichen.»

Was können Sie denn tun? Noch gibt es ja keine ursächliche Therapie.

Ganz wichtig ist in dieser Situation das Energiemanagement, das sogenannte Pacing. Das erlernen Betroffene in der Ergotherapie. Doch dann kommen sie nach Hause, und es sind beispielsweise noch drei Kinder da. Das kann es schwierig machen, das Erlernte umzusetzen. Wir sehen die Betroffenen in ihrem alltäglichen Umfeld und können beim Transfer von der Theorie in die Praxis helfen.

Hinzu kommt der psychische Stress: Die Angst, dass die Kräfte nicht ausreichen. Betroffene finden sich plötzlich in einer völlig neuen Realität mit vielen offenen Fragen wieder. Auch da hilft die Spitex: Betroffene melden zurück, dass sie die Gewissheit spüren, nicht im Regen stehengelassen zu werden.

Welche Leistungen sind sonst noch gefragt?

Wir helfen beispielsweise beim Aufbau einer angepassten Tagesstruktur. Wir unterstützen bei der Koordination mit den Angehörigen, dem Helfernetz und den Behörden. Und wir beraten: Wie erkläre ich meinen Zustand? Wie drücke ich mich aus, wie kommuniziere ich? Wie erhalte ich soziale Kontakte? Auch Bewältigungsstrategien im Umgang mit belastenden Emotionen wie Ängsten, Wut und Frust sind ein wichtiges Thema. Dazu kommen je nach Bedarf sanfte Aktivierungsübungen, Entspannungs- und Achtsamkeitstraining, oder auch Aroma- und Riechtherapie.

Vielleicht kann man es auf eine einfache Formel bringen: Betroffene fühlen sich oft ignoriert und alleine gelassen. Wir nehmen sie ernst und stehen mit unserer Fachkompetenz zur Seite, auch wenn es schwierig wird.

Wie gehen Sie als Pflegende mit dieser Belastung um?

Verzweiflung und Leid zu begegnen, ist für uns in der Pflege nichts Neues. Wir sind damit nicht überfordert – es ist Teil des Berufs. Auch das ist für Betroffene hilfreich: Sie müssen keine Angst haben, dass sie uns überlasten wie vielleicht Angehörige, und können auch einfach mal Dampf ablassen. Es ist unsere Aufgabe, einen stigmafreien Raum zu kreieren, in dem es keine verletzenden Zweifel gibt und jegliche Gefühle einen Platz haben. Das wird oft als wohltuend und heilsam empfunden.

Long Covid Sprechstunde

Linda Frei (Mitte, rote Hose) mit dem Team der interprofessionellen Sprechstunde am Zürcher Stadtspital Waid. Es erhielt den SAMW-Award für Interprofessionalität (Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften). (Bild: zVg)

Was sind die Ziele in der Long-COVID-Pflege?

Es geht darum, die Betroffenen als Teil eines interdisziplinären Behandlungskonzepts bestmöglich zu unterstützen und ihr Funktionsniveau und ihren Handlungsspielraum zu erhalten oder zu verbessern. Je nach Schweregrad der Symptomatik kann das bedeuten, dass sie im Arbeitsprozess bleiben oder dass der Alltag und der Haushalt bewältigbar bleiben.

Ich gebe Ihnen ein Beispiel dazu: Eine Klientin kann problemlos den Spiegelkasten putzen, aber sobald sie sich bücken muss für die Duschwanne, wird ihr schwindelig. Schwindel ist relativ typisch für Long COVID. In diesem Fall schauen wir uns gemeinsam an: Welche anderen Körperhaltungen sind möglich? Geht es besser, wenn sie sich hinkniet? Gibt es geeignete Hilfsmittel? So erobern wir uns mit einer kleinen Anpassung ein Stück Alltag zurück.

Woran orientieren Sie sich für die Pflege? Mit Long COVID gibt es ja erst seit Kurzem Erfahrungen.

Ja, es gibt noch keine klaren Leitlinien. Oberstes Prinzip ist «no harm» – also nicht schaden oder verschlimmern. Gewisse Symptome kennen wir bereits von anderen Krankheitsbildern, etwa von ME/CFS. Dieses Know-how nutzen wir, etwa zu Themen wie Pacing und Tagesstruktur oder Umgang mit negativen Gefühlen. Einmal in der Woche treffen wir uns im interprofessionellen Board am Stadtspital Waid und besprechen uns mit Ärztinnen und Ärzten, Ergo- und Physiotherapeutinnen und Psychologen. Die Behandlungskonzepte werden laufend evaluiert und bei Bedarf angepasst.

«Das ganze Umfeld eines Menschen wird durch den veränderten Gesundheitszustand beeinflusst.»

Welchen Beitrag können Sie bei kognitiven Symptomen leisten?

Paradoxerweise ist es oft so: Genau dann, wenn es einem am schlechtesten geht, ist der Briefkasten voll mit Formularen und muss man sich in vielen Situationen erklären. Wenn man am für Long COVID typischen «Brain Fog» leidet, der sich mit Vergesslichkeit und Konzentrationsschwierigkeiten äussert, sind diese Dinge eine enorme Herausforderung. Hier ist viel Fachwissen im Umgang mit dieser Symptomatik gefragt. In diesen Fällen steht die Pflege mit klarem Kopf zur Seite, leitet and und fördert ressourcenorientiert. Das ist eine Form von Case Management, kombiniert mit klinischem Fachwissen.

Es geht also um eine ganzheitliche Begleitung und Betreuung.

Genau. Wir können Betroffene beispielsweise auch zu einem Termin beim Vertrauensarzt begleiten. Bei langwierigen Fällen wird das früher oder später ein Thema. Ein solcher Termin hat einen grossen Einfluss und sollte deshalb unbedingt wahrgenommen werden können. Er kann aber auch sehr belastend sein.

Ich würde es so zusammenfassen: Wir gehen neben der somatischen Pflege auch die psychosozialen Folgen an, die Long COVID auf das Leben von Betroffenen hat. Man darf nicht vergessen, dass auch das ganze Umfeld durch den veränderten Gesundheitszustand eines Familienmitglieds oder Arbeitnehmers beeinflusst wird. Diese Auswirkungen sind real. Indem wir uns darum kümmern, können wir den Weg freiräumen für einen Genesungsprozess.

Linda Frei ist Gründerin und Geschäftsleiterin der Spitex Herzenssache in Zürich, die Long-COVID-Pflege anbietet. Eine längere Version dieses Interviews erschien auch im Fachmagazin NOVAcura (zum PDF).

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