Unter dem Titel «Mein Leben mit Mr. Long» veröffentlicht Altea in loser Folge Einträge aus dem Long-COVID-Tagebuch von Annette Scholer. Ihre Erkrankung beschreibt Annette Scholer metaphorisch als «Mr. Long», mit dem sie nun zusammenleben muss. Bereits erschienen: Teil 1, Teil 2, Teil 3
«Mr. Long möchte wieder einmal, dass ich über ihn schreibe. Er steht leider sehr gerne im Mittelpunkt, und das in letzter Zeit häufiger als sonst. Früher meldete er sich vielleicht zwei Mal in der Woche richtig heftig, so dass ich mindestens einen ganzen Ruhetag einlegen musste. Heute ist fast jeder Tag eine Überraschung, und die habe ich nicht gerne. Ich möchte gerne wissen, was läuft und was ich kann, doch er sagt nur «blos mer ind Schueh».
Mr. Long geht mir seit einiger Zeit sprichwörtlich auf die Nerven. Er nistet sich meistens neben der Wirbelsäule ein und drückt den Schmerzknopf so richtig heftig. Kürzlich meldete er erweiterte Ansprüche an und liess meinen ganzen Rücken schmerzen und brennen. Nachdem es ihm beim Übergang Lendenwirbel/Brustwirbel nicht mehr so gefiel, wanderte er schnurstracks in den Brustbereich bis fast in den Nacken. Dort liess er es sich so richtig gut gehen.
Nur mit Schmerzmitteln konnte ich es einigermassen aushalten. Als ich dann noch Kortison nahm, wurde es schnell besser. Diese Kur machte ich fast zwei Wochen. Danach wollte ich das Kortison absetzen, da es mir ja besser ging. Doch Mr. Long rächte sich, der merkt auch alles... Also mit Kortison, doch die Schmerzmittel konnte ich zum Glück wieder langsam reduzieren.»
«Ich nehme Wetten entgegen, wo der Schmerz als nächstes auftaucht.»
«Nun habe ich eine Geschäftsidee. Ich richte ein Wettlokal ein, in dem gewettet wird, wo die Schmerzen als nächstes auftauchen. Sitzt er am Morgen noch im ganzen rechten Bein, findet er es danach lustig, sich im Rücken niederzulassen. Auch im Gesicht findet er es so richtig nett. Sämtliche Schwachpunkte meines Körpers kennt er in- und auswendig.
Etwas Neues ist meine linke Gesichtshälfte, die sich selbständig macht. Je nach Anstrengung, sei es körperlich oder geistig, schwingt sich Mr. Long in mein Gesicht und lässt mich alt aussehen.
Ich habe mir schon überlegt, ob ich mich als Frankenstein in der Geisterbahn engagieren lassen soll, denn einer der Gesichtsmuskeln zieht sich zusammen und schwillt inklusive Auge an. Das ist die Vorstufe zur Erschöpfung. Dann weiss ich, ich muss nun zu Ruhe kommen.»
Angespannte Gesichtshälfte, das linke Auge nur noch halb offen: Annette Scholer hält im Auto einen der beschriebenen Anfälle fest. (Bild: privat)
«Ich bin eine Perfektionistin und habe es gerne, wenn alles an seinem Platz steht, sauber und exakt aufgeräumt. Disziplin und ein durchgetaktetes Programm bestimmten mein Leben. Unpünktlichkeit oder Absagen gab es bei mir sehr selten. Als alleinerziehende Mutter hat man zu funktionieren und alles im Griff zu haben. Alles ist bis ins Detail durchdacht und organisiert.
Abweichungen stressen mich deshalb und werfen mich aus der Bahn. Und nun kommt so ein gewisser Mr. Long und haut mir mein ganzes durchgeplantes Leben einfach so über den Haufen. Manchmal drückt er beide Augen zu und lässt mich einen grösseren Ausflug mit meiner Familie machen. Diese werden nur mit einem zweiten Fahrer gemacht. Wenn es Mr. Long nämlich zu bunt wird, gibt er mir ein Zeichen, dass ich den Schlüssel abgeben soll. Ich gehorche freiwillig.»
«Ich fühle mich wie eine Schwangere – ausgeliefert und ohne Kontrolle über meinen Körper.»
«Ich und Mr. Long dealen oft zusammen. Immer öfter geht er Kompromisse mit mir ein. Wenn ich dann zuhause bin, kann meine Erholungsphase sehr, aber wirklich seeehr lange sein. Dann werde ich ganz schnell auf Null runtergefahren, strecke alle Viere von mir und fühle mich wie eine tote Fliege.
Ich fühle mich trotz allem nicht krank – eher wie eine Schwangere, ausgeliefert und ohne Kontrolle über den eigenen Körper. Bei Schwangeren spinnen die Hormone, bei mir Mr. Long.»
«Mr. Long ist auch spannend: Ich musste mich vorher noch nie so sehr mit mir auseinandersetzen.»
«Achtsamkeit ist ein grosses Wort geworden: Abwägen, was noch geht, was ins Tagesprogramm passt, und sonst die Fünf geradesein lassen. Sehr zur Freude meiner Tochter: Für sie ist es Neuland, eine Mutter zu haben, die nicht mehr wie früher funktioniert, viel weniger Streit und Diskussionen. Auch mein Freund hat es leichter mit mir, ich gebe viel mehr nach und lasse ihn machen.
Ich finde Mr. Long auch interessant und spannend. Das habe ich auch meinem Arzt gesagt, der staunte und lachte nur. Doch wenn man sich so mit sich selbst auseinandersetzen muss und sich ganz neu kennenlernt – was ich doch nie gemacht habe, das brauchte ich ja auch nicht –, dann ist das Ganze wirklich sehr interessant.»