Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) führt ein Monitoring zu den Langzeitfolgen von COVID-19 durch (Altea hat berichtet). Kürzlich wurde nun eine erste Auswertung für das Jahr 2021 publiziert. Laut BSV handelt es sich um provisorische Zahlen, da noch nicht alle Gesuche abschliessend bearbeitet wurden. Die Anzahl der Leistungsgutsprachen dürfte also noch zunehmen.
Im Jahr 2021 haben sich 1764 Personen mit Langzeitfolgen nach COVID-19 bei der IV angemeldet. Die interessantesten Zahlen aus der provisorischen Auswertung:
- 38% (683 Personen) bekamen eine Leistung zugesprochen.
- Von diesen 683 Personen waren 206 bereits vor ihrer COVID-Infektion IV-Bezüger. Bei den restlichen 477 Personen handelt es sich um Erstanmeldungen.
- Von den zugesprochenen Leistungen entfielen 84% auf Eingliederungsmassnahmen, 10% auf weitere Leistungen und 6% auf Renten.
- Das heisst umgekehrt: 62% (1081 der 1764 angemeldeten Personen) bekamen keine Leistung.
Der tiefe Anteil an Renten bzw. die demgegenüber zahlreichen Eingliederungsmassnahmen weisen laut BSV darauf hin, «dass die Erwerbsfähigkeit der von Long-Covid betroffenen IV-Versicherten sich in sehr vielen Fällen […] deutlich verbessert oder wiederhergestellt werden kann – womit keine Rente notwendig ist.»
Verschiedene Aspekte weisen darauf hin, dass die IV-Zahlen die Grössenordnung des Problems nur unvollständig widerspiegeln.
Das klingt erfreulich. Die IV-Zahlen lassen darauf schliessen, dass das Problem von Long COVID geringer ist, als man zunächst befürchten musste. Insbesondere die Zahl von nur 477 Erstangemeldeten mit Leistungsanspruch im Jahr 2021 ist angesichts der Hunderttausenden von Infektionen verschwindend gering, ebenso im Vergleich zu den knapp 80'000 jährlichen IV-Anmeldungen. Long COVID verschwindet fast komplett im Datenrauschen.
Gründe für eine vorsichtige Interpretation
Leider lässt sich das Thema Long COVID damit aber nicht einfach ad acta legen. Zwar lässt sich vermuten, dass bei der IV die schlimmsten Fälle sichtbar werden und die Zahlen deshalb ein gutes Barometer dafür sind, wie gross der Impact von Long COVID ist. Doch es gibt einige Fakten, die diesem Eindruck widersprechen. So weist das BSV darauf hin, dass sich die IV-Zahlen nicht als Indikator für die Prävalenz von Long COVID eignen.
«Die IV-Zahlen bilden die effektive Situation nur unvollständig ab», bestätigt auch Milo Puhan, Professor für Epidemiologie an der Universität Zürich. Er hat die globale Krankheitslast von Long COVID untersucht: Sie ist gemäss seiner Studie vergleichbar mit jener von schweren Nackenschmerzen oder der chronischen Darmentzündung Morbus Crohn.
«Man wurstelt sich irgendwie durch, statt sich bei der IV anzumelden.»
Darüber hinaus weisen weitere Aspekte darauf hin, dass die IV-Zahlen die Grössenordnung des Problems nur ungenügend widerspiegeln.
- Personen, die nicht IV-versichert sind
Verschiedene Gruppen von Betroffenen haben gar keinen Anspruch auf IV-Leistungen und tauchen deshalb in den Statistiken nicht auf. Das sind Personen, die zum Zeitpunkt der Erkrankung nicht erwerbstätig waren. Darunter fallen etwa Kinder, Schülerinnen und Schüler, Studierende sowie Personen, die sich Vollzeit um Haushalt, Kinder und Angehörige kümmern.
- Scham und Stigma
«Mit der Invalidenversicherung ist auch eine Stigmatisierung verbunden», sagt Curdin Brändli. Er ist Gruppenleiter berufliche Eingliederung in der Rehaklinik Bellikon, die zur Suva (Schweizerische Unfallversicherung) gehört, und betreut Long-COVID-Betroffene im Jobcoaching. Gerade für junge Betroffene sei das Stigma eine grosse Hürde. Wer vor der Erkrankung fit und leistungsfähig gewesen sei, tue sich schwer damit, sich mit Invalidität zu assoziieren. «Man wurstelt sich halt irgendwie durch.» Dabei sollten Betroffene sich frühzeitig anmelden und nicht erst, wenn gar nichts mehr geht.
- Unwissen, Unvermögen, Überforderung
«Die IV-Anmeldung ist ziemlich anspruchsvoll und anstrengend – selbst für einen Profi wie mich, der täglich damit zu tun hat», sagt Curdin Brändli. Einige seiner Klienten könnten das aufgrund ihres Zustands unmöglich selbst und bräuchten Unterstützung für die Anmeldung. Ausserdem sei vielen Betroffenen und deren Angehörigen gar nicht bewusst, dass eine IV-Anmeldung sinnvoll wäre. «Auch beim Arzt oder in der Therapie werden sie selten darauf aufmerksam gemacht, weil dort das Medizinische im Vordergrund steht.»
Welche Leistungen man bekommt, hängt auch vom Wohnort ab.
- Zurückhaltende Vergabepraxis
«Die IV ist bei neuen Syndromen tendenziell zurückhaltend mit Gutsprachen», hat Curdin Brändli beobachtet. «Sie hat sich von einer Renten- zu einer Eingliederungsversicherung gewandelt. Das ist ja auch sinnvoll, gerade wenn es um junge Menschen geht.» Ausserdem gibt es noch keinen Standard zur Beurteilung von Leistungsansprüchen. Der Vorschlag für Leitlinien seitens der Versicherungsmedizin Schweiz ist derzeit in Überarbeitung und erst in einer vorläufigen Fassung publiziert. Bis zu einer einheitlichen Beurteilung wird es also noch etwas dauern.
- Kantonale Unterschiede
Die Kantone, deren IV-Stellen für die Beurteilung zuständig sind, gehen unterschiedlich mit Long COVID um. Manche sind proaktiv und befürworten frühe Massnahmen, andere stehen eher auf der Bremse. Für Betroffene ist es frustrierend, wenn sie allein aufgrund ihres Wohnsitzes unterschiedlich behandelt werden.
- Zeitlich verzögerte Anmeldungen
Eine IV-Anmeldung wird von Betroffenen mitunter erst nach monatelangem Leidensweg in Betracht gezogen. Sie zögern diesen Schritt möglichst lange hinaus, weil sie noch Krankentaggeld beziehen, weil sie zu wenig informiert sind oder sich wenig Chancen ausrechnen, oder weil die Rehabilitation sie absorbiert. Es ist also zu vermuten, dass einige Personen, die im Jahr 2021 schwerer an Long COVID erkrankt sind, noch gar nicht in der IV-Statistik auftauchen.
- Weiterarbeiten trotz Beeinträchtigung
Voraussetzung für eine Anmeldung bei der IV ist eine bescheinigte Arbeitsunfähigkeit von mindestens 40%. Doch nicht alle, die erkrankt sind, hören auf zu arbeiten oder reduzieren ihr Pensum. «Viele versuchen um jeden Preis im Arbeitsmarkt zu bleiben, so lange es nur irgendwie geht», sagt Chantal Britt, Präsidentin der Patientenorganisation Long Covid Schweiz. «Das geht auf Kosten des Privatlebens: Sie verzichten auf soziale Kontakte und Freizeitaktivitäten, weil alle Energiereserven für die Arbeit draufgehen.»
«Betroffene verzichten auf soziale Kontakte und Freizeit, weil alle Energiereserven für die Arbeit draufgehen.»
Zunahme an kognitiven Problemen
Daten aus den USA stützen die Annahme, dass es unter jenen, die weiterarbeiten, zu einer Zunahme von Symptomen gekommen ist, wie sie für Long COVID typisch sind. Das zeigt eine sorgfältige Analyse in einem Artikel von Bloomberg. Autor Justin Fox hat Zensusdaten ausgewertet und herausgefunden, dass die Zahl der Werktätigen, die an Konzentrations- und Gedächtnisproblemen leiden, zugenommen hat.
Zwischen Januar 2020 und April 2022 betrug diese Zunahme 1,2 Millionen Personen bzw. 12,7 Prozent (siehe im Artikel die Grafik «We’re Having Some Trouble Concentrating»). Andere Daten zeigen, dass der Anteil an Personen mit Konzentrationsproblemen unter Personen mit bestätigter COVID-19-Infektion höher ist als bei Personen ohne bestätigte Infektion (siehe Grafik «Covid and Brain Fog Go Together»). Dies legt einen Zusammenhang zwischen der Infektion und den kognitiven Problemen nahe.
Arbeitsfähigkeit sagt nicht alles
Eine Betrachtung der Arbeitsfähigkeit allein reiche nicht aus, schlussfolgert Justin Fox. «Meine Lesart der Daten ist, dass eine Mehrheit der Personen mit Long-COVID-ähnlichen Symptomen weiterarbeitet, und dass selbst jene mit schweren Fällen eigentlich lieber weiterarbeiten würden», schreibt Fox.
Chantal Britt sieht das ähnlich. «Arbeitsfähig ist nicht das gleiche wie gesund», sagt sie. «Die Frage ist vielmehr: Wie viele arbeitsfähige Menschen mit oder nach Long COVID können neben der Arbeit Sport machen und ihre Freizeit aktiv gestalten? Das würde doch Gesundheit definieren.» Sich zu bewegen und soziale Kontakte zu pflegen sei schliesslich auch für die psychische Gesundheit essenziell. «Long COVID nur durch die volkswirtschaftliche Brille zu betrachten, wird dem Thema nicht gerecht», sagt sie.
Betroffene brauchen Anerkennung, Unterstützung und Therapien.
Fazit
Wenn die Analyse von Justin Fox zutrifft und sich auf die Schweiz übertragen lässt, wäre das ein Argument für eine proaktive Eingliederung. Das würde bedeuten: Betroffene sollten mit der entsprechenden Unterstützung nur so (viel) arbeiten, dass sie unter ihrer Belastungsgrenze bleiben und sich behutsam in den Arbeitsalltag zurücktasten können. Das ist erfolgsversprechender, als zu arbeiten, bis es nicht mehr geht. Je früher ein gutes Belastungsmanagement greift, umso besser die Prognose. Zahlen aus Holland zeigen: Von den Betroffenen, die schon über zwei Jahren an Long COVID leiden, kann über die Hälfte gar nicht mehr arbeiten.
Die tiefen IV-Zahlen sind ein ermutigendes Signal, dass Long COVID sich gesamtgesellschaftlich bewältigen lässt und bei vielen Betroffenen im Verlauf der Zeit eine Verbesserung eintritt. Dennoch ist davon auszugehen, dass sie das wahre Ausmass der Krankheitslast in der Schweiz nicht abbilden, und dass sich nicht alle gleich gut erholen. Betroffene brauchen Anerkennung, Unterstützung und Therapien.