Das Thema Covid-Impfungen wird nach wie vor intensiv diskutiert. Doch es geht nicht nur um den Schutz vor einer Infektion, sondern auch um mögliche therapeutische Effekte bei Long COVID. Seit unserem letzten Interview zum Thema ist ein halbes Jahr vergangen. Höchste Zeit also für ein Update: Was ist in der Forschung seither passiert?
Jan Fehr, Covid-Impfungen können für Betroffene von Long COVID auch therapeutische Effekte haben. Weiss man inzwischen besser, ob und wenn ja bei wem die Impfung helfen kann?
Es gibt eine neue Studie aus Frankreich. Dort wurden knapp Tausend Betroffene untersucht: 455 erhielten die Impfung, eine Kontrollgruppe von 455 Personen erhielt keine Impfung. Vier Monate später waren die Symptome bei den Geimpften im Vergleich zu den Ungeimpften im Durchschnitt reduziert. Die Rate jener, die sich komplett erholt hatten, war bei den Geimpften sogar doppelt so hoch wie bei den Ungeimpften. Es ist also möglicherweise schon etwas dran an einem therapeutischen Effekt der Impfung.
«Grundsätzlich gilt die Impfung aufgrund der bisher verfügbaren Daten auch bei Betroffenen von Long COVID als sicher.»
Nicht ganz allen half die Impfung aber: Etwa 5 % hatten unerwünschte Nebenwirkungen, etwa 3 % berichteten von einem Rückfall. Weiss man schon, wer von einer Impfung profitieren kann – und wer nicht?
Nein, dazu kann man noch nichts sagen. Das ist natürlich etwas, was uns sehr interessieren würde. Die verfügbaren Studien sind aber noch zu grobkörnig und zu klein, um herauszufinden, wer von der Impfung am meisten profitieren würde. Die französische Studie ist auch noch nicht begutachtet. Grundsätzlich gilt die Impfung aber aufgrund der bisher verfügbaren Daten auch bei Betroffenen von Long COVID als sicher.
Wie nachhaltig sind die Verbesserungen durch die Impfung? Hält eine Verbesserung auch langfristig an?
Auch dazu kann man noch nichts Gesichertes sagen. Ein Wundermittel für alle ist die Impfung wohl nicht. Andere Forschungsgruppen sind an dieser Frage dran, aber das braucht Zeit. Gute Daten brauchen Sorgfalt, das geht nicht von heute auf morgen. Ich weiss, dass das frustrierend sein kann. Aber hier möchte ich um Verständnis werben. Gute, verlässliche Wissenschaft ist sehr aufwendig.
Hat denn die Studie der Universität Yale um Professor Iwasaki inzwischen Erkenntnisse gebracht?
Auch diese Studie läuft derzeit noch. Um den Jahreswechsel erwarten wir erste Resultate aus der Pilotphase. Anfang 2022 ist dann der Start einer grösseren Untersuchung geplant. Das zeigt: Auch eine der renommiertesten Universitäten der Welt kann nicht in wenigen Wochen etwas aus dem Hut zaubern. Es braucht Geduld – mehr, als ich selbst im Frühling noch vermutete.
Zu den praktischen Fragen: Wie lange soll man nach einer Infektion warten, bis man sich impft?
Die Empfehlung ist neu, dass man sich drei Monate nach einer Infektion impfen lassen kann, und zwar mit einer Dosis. Wer glaubt, eine zweite Dosis könnte hilfreich sein, soll das mit seinem Arzt oder seiner Ärztin diskutieren, das ist denkbar.
Welche Rolle spielt der Impfstoff?
In der Studie aus Frankreich bekamen die allermeisten den Impfstoff von Pfizer, Moderna hatte nur einen kleinen Anteil. Explizit untersucht und verglichen wurden die verschiedenen Impfstoffe bisher aber nicht hinsichtlich einer Wirkung bei Long COVID.
Sollen sich Betroffene boostern lassen?
Ja. Grundsätzlich sollte man sich gerade angesichts von möglichen Reinfektionen mit Omikron boostern lassen. Doch was pauschal gilt, ist vielleicht im individuellen Fall nicht passend. Im Zweifel sollte man die Entscheidung mit einer Fachperson besprechen.
Wie sind Berichte von Betroffenen einzuschätzen, die durch die Impfung zurückgeworfen wurden?
Ich kann nicht ausschliessen, dass das passiert. Auf jeden Fall sollte man solche Berichte ernst nehmen. Denn es passiert ja etwas im Immunsystem – wir wollen ja, dass etwas passiert! Es ist wie bei einem Mischpult, man muss die richtige Balance finden. Aktuell wissen wir noch zu wenig genau, bei wem der Regler wie zu führen ist. Gemäss der französischen Studie sind Rückfälle im Verhältnis aber seltener.
Angesichts der unklaren Studienlage: Was ist Ihr Rat, wenn man unsicher ist, ob man sich impfen lassen soll oder nicht?
Ich plädiere hier für das «shared decision making», also dass man den Entscheid gemeinsam und auf Augenhöhe mit seiner Ärztin oder seinem Arzt erarbeitet. Es gibt keine Garantie für einen positiven Effekt oder den hundertprozentigen Ausschluss eines Risikos und jeder Mensch hat seine eigene Geschichte. Das ist ganz individuell. Es geht darum, eine gut informierte Entscheidung treffen zu können, und auf dem Weg dahin auch eine realistische Erwartung zu entwickeln, welche Effekte eintreten könnten oder eben auch nicht. Es ist immer ein Abwägen zwischen einem möglichen Gewinn und einem möglichen Risiko.
Sich nicht impfen zu lassen, erhöht im Gegenzug das Risiko einer Reinfektion.
Ja, das wissen wir, die Immunität gegen eine Reinfektion nimmt mit der Zeit ab. Auch eine Reinfektion könnte einen im Genesungsverlauf zurückwerfen. Ob aber eine Reinfektion für Betroffene von Long COVID schlimmer ist als für Genesene, wissen wir nicht.
«Wer geimpft ist, halbiert sein Risiko, an Long COVID zu erkranken.»
Wer sich bisher nicht infiziert hat und geimpft ist: Schützt die Impfung vor Long COVID im Falle eines Impfdurchbruchs?
Man ist durch eine Impfung nicht komplett geschützt. Aber erstens ist das Risiko, sich überhaupt zu infizieren, nach einer Impfung deutlich geringer. Und zweitens ist – wenn man sich trotzdem infiziert – das Risiko, an Long COVID zu leiden, im Vergleich zu einer ungeimpften infizierten Person nur halb so gross. Das zeigt eine Studie aus England.
Verschiedentlich wird aber auch vermutet, dass eine Impfung Long COVID überhaupt erst auslösen könne. Wie sehen Sie das?
Bis heute wurden über 8 Milliarden Impfdosen verimpft, und ein mit Long COVID vergleichbares Phänomen mit einer derart hohen Prävalenz wäre mir nicht bekannt. Für mich ist das auch schwer vorstellbar, wenn ich an die Pathogenese denke, also was eine Krankheit auslösen könnte.
Wie meinen Sie das?
Die mRNA-Impfung ist sehr präzise. Wie ein chirurgischer Eingriff, der den Körper täuscht, damit er die gewünschten Antikörper produziert. Aber man ruft nicht das volle Krankheitsbild hervor, keine Systemkrankheit, bei der sämtliche Organe und die Gefässe beteiligt sein können. Genau das wollen wir uns mit der Impfung ja ersparen.
Man kann das also ausschliessen?
Ich will nicht sagen, dass es nicht möglich ist. Wichtig ist auf jeden Fall, diese Patienten ernst zu nehmen, zuzuhören und genau hinzuschauen. Irgend etwas haben sie ja, auch wenn es vielleicht nicht Long COVID im eigentlichen Sinn ist und wir dies mit heutig gängigen Methoden noch nicht ‹dingfest› machen können.