Um den Stand der Wissenschaft zusammenzufassen, greift man oft auf eine Literaturrecherche zurück. Das ist ein Überblick der wissenschaftlichen Publikationen zu einem Thema. Einen solchen Überblick zum Thema Long-COVID erstellt die Universität Zürich regelmässig im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit (BAG).
Die jüngste Zusammenfassung Dutzender von Studien zeigt: Es ist nach wie vor kompliziert. Beim Lesen wird einem schnell bewusst, dass es auch eineinhalb Jahre nach Beginn der Pandemie über die Langzeitfolgen einer COVID-19-Erkrankung mehr Wissenslücken als Gewissheiten gibt. Gemäss dem Team der Universität Zürich fehlen nach wie vor eine allgemein anerkannte Definition, Terminologie oder Klassifikation. Diagnostik und Symptomatik sind komplex, und Risikofaktoren, Schutzfaktoren und sozioökonomische Auswirkungen müssen weiter erforscht werden.
Wie verbreitet ist Long-COVID? Um das beziffern zu können, bedürfte es einer einheitlich anerkannten Definition – und dort fängt das Problem schon an. Wegen Unterschieden bezüglich Definitionen, Methoden, Beobachtungszeiträumen und Einschlusskriterien reichen die Schätzungen über die Long-COVID-Verbreitung nach einer Infektion von 2,3% bis 89% (bei Personen, die hospitalisiert waren). Diese Bandbreite zeigt, dass die Studienergebnisse meist schlecht vergleichbar sind. Bei den drei Schweizer Studien liegen die Schätzungen mit 26%, 32% und 53% etwas näher zusammen.
Kinder betroffen, aber weniger häufig
Zu Long-COVID bei Kindern gibt es noch wenig Zahlen, doch konnten in der neusten Version des Literaturüberblicks von Anfang Juni zwei neue Studien berücksichtigt werden. Eine grosse Studie aus England und die Langzeitstudie «Ciao Corona» aus Zürich lassen vermuten, dass rund 2-4% der Kinder, die sich mit COVID-19 infizieren, von Long-COVID betroffen sind. Diese Erkenntnis ist insbesondere im Kontext fehlender Impfmöglichkeiten für Kinder und hinsichtlich der Schutzmassnahmen an Schulen relevant.
In den berücksichtigten Studien sind mehr als 50 Symptome beschrieben. Zu den am häufigsten genannten gehören Müdigkeit, gefolgt von Kopfschmerzen, Atembeschwerden, Geruchs- und Geschmacksstörungen, kognitiven Beeinträchtigungen sowie Schlaf- und Angststörungen. Bei einigen Betroffenen treten mehrere systemübergreifende Symptome auf, und manchmal folgen auf Besserungen neue Schübe.
Einfluss auf Familie und Beruf
Was man mit Sicherheit sagen kann, ist, dass Long-COVID neben den teilweise schweren körperlichen Beschwerden auch einschneidende Folgen für die psychische Gesundheit, die Lebensqualität und das Familienleben hat. Es wurde zudem festgestellt, dass viele von Long-COVID betroffene Menschen mit längeren Arbeitsausfällen, reduzierten Arbeitszeiten und einem höheren Risiko für Arbeitslosigkeit und finanzielle Notlagen zu kämpfen haben.
In Grossbritannien sind ca. 1,6% der Bevölkerung betroffen. In der Schweiz wären das ca. 137'000 Personen.
Während statistische Erhebungen in der Schweiz fehlen, befragte das britische Statistikamt ONS in einer repräsentativen Umfrage über 300'000 Personen. Demnach schätzt das Amt Anfang Juni, dass rund 1 Million Menschen, also über 10% der Infizierten oder ca. 1,6% der Bevölkerung, vier Wochen nach der Infektion nach eigenen Angaben noch immer an mindestens einem Symptom leiden. Dies entspräche in der Schweiz etwa 137'000 Personen. Auch wenn die epidemiologischen Situationen in den beiden Ländern nicht 1:1 vergleichbar sein dürften, so unterstreichen diese Zahlen doch, was auch im BAG-Bericht nachzulesen ist: Dass Long-COVID wahrscheinlich auch langfristige Belastungen für die Wirtschaft und das Gesundheitssystem mit sich bringen wird.